Notruf aus dem Wald
1. August 2018Ein nebelverhangenes Dach aus immergrünen Baumkronen, ein rot-gelber Teppich raschelnder Herbstblätter oder ein herb duftender Nadelwald — abhängig davon, in welchem Teil der Welt man lebt, weckt das Wort "Wald" sehr unterschiedliche Assoziationen. Obwohl die Wälder dieser Erde sehr unterschiedlich aussehen, haben alle ein paar grundlegende Gemeinsamkeiten.
Wälder tragen dazu bei, das Wetter zu regulieren. Sie verhindern Überschwemmungen und Bodenerosion. Wälder bieten nicht nur dem Menschen, sondern auch unzähligen Tierarten Obdach, Nahrung und Wasser. Sie liefern Sauerstoff, speichern klimaschädliches CO₂ und weisen, nach den Ozeanen, die zweitgrößte Artenvielfalt auf dem Planeten auf.
Trotz dieser Fülle lebenswichtiger Funktionen werden Wälder gerodet. Allein im Jahr 2017 sind 29,4 Millionen Hektar Baumbestand weltweit verschwunden, eine Fläche so groß wie 41 Millionen Fußballfelder. Das ist fast so viel wie in 2016. In dem Jahr sind so viele Bäume abgeholzt worden wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnung durch Global Forest Watch (GFW). Die Online-Plattform wertet regelmäßig Meldungen über illegale Abholzungen und Satellitenbilder aus.
Besonders hart traf es 2017 die Tropenwälder. Fast 15,8 Millionen Hektar tropische Baumbestände mussten weichen — eine Fläche halb so groß wie Polen.
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Die tropischen Wälder Süd- und Mittelamerikas, Afrikas und Asiens sind Heimat von rund 80 Prozent aller bekannten Arten der Welt. Dabei bedecken sie gerade einmal sechs Prozent der Landfläche des Planeten. Weil sich mit der landwirtschaftlichen Nutzung der Boden und den riesigen Hartholzbäumen sehr viel Geld verdienen lässt, sind die Wälder zu einem der bedrohtesten Lebensräume geworden. Das sind auch schlechte Nachrichten für den Kampf gegen den Klimawandel, denn Wälder speichern große Mengen Kohlenstoff.
"Zwischen 12 und 17 Prozent aller CO₂-Emissionen entstehen durch den Verlust von Tropenwäldern", sagt der Umweltwissenschaftler Jake Bicknell von der britischen Universität Kent.
"Wir reden über erschreckende Ausmaße in der Größenordnung von Fußballfeldern", so Bicknell mit Hinweis auf Berechnungen, wonach jede Minute 50 Fußballfelder Wald von der Erdoberfläche verschwinden. "So sieht die Realität aus", fügt er hinzu.
Abholzung summiert sich
Das Amazonasbecken beheimatet den größten Regenwald der Erde. Er erstreckt sich über neun Staaten Südamerikas. Doch den größten Anteil am Amazonas-Regenwald hat Brasilien, mit einer Landfläche größer als Westeuropa. Hier haben die dramatischsten Entwaldungen und Degradierungen (also eine Abnahme der Qualität des Waldes und somit auch der Anzahl der Arten) stattgefunden.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Anfang der 2000er Jahre stieg die Nachfrage nach Fleisch. Riesige Flächen wurden gerodet, um Platz für die Viehzucht zu machen — einer der Hauptgründe für den Waldverlust.
Zwischen 2000 und 2012 ist die Abholzungsrate in Brasilien dann um 75 Prozent gesunken. Grund dafür waren höhere Umweltschutzauflagen, eine verbesserte Überwachung der Wälder sowie Zusagen internationaler Firmen, kein Fleisch oder Leder von Rindern zu verkaufen, die auf gerodeten Flächen gehalten wurden.
Seit 2012 ist diese Rate jedoch wieder gestiegen, wie Zahlen des brasilianischen Instituts für Weltraumforschung belegen. Damals lockerte die Regierung des Landes Umweltvorschriften und gab Pläne für neue Schutzgebiete auf. In den vergangenen Jahren nahm der Waldverlust noch einmal Fahrt auf, 2016 erzielte er den rekordverdächtigen Wert von 5,4 Millionen Hektar, laut GFW.
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Der Biologe und WWF-Referent für Südamerika, Dirk Embert, führt die dramatischen Zahlen teilweise auf neue Gesetze zurück, "die Abholzung begünstigen". Sie wurden nach einem Regierungswechsel im Jahr 2016 eingeführt. Umweltschützer beschuldigen den brasilianischen Präsidenten Michel Temer, sich dem Druck von Lobbygruppen gebeugt zu haben.
Embert sagt auch, dass die Rodung für Ölpalmen ein neues Problem sei. In anderen Teilen der Welt wird vor allem für Palmölplantagen großflächig Wald vernichtet. "Aus immer mehr Ländern in Südamerika erreichen uns Meldungen, dass die ersten Palmölplantagen geplant oder bereits angelegt worden sind", so Embert.
Palmöl, ein Hauptverursacher
Bis vor Kurzem war die Palmölproduktion vor allem in Indonesien und Malaysia angesiedelt. In beiden Ländern sind Ölpalmen- und Holzfaserplantagen (hauptsächlich zur Zellstoff- und Papierherstellung) die beiden Hauptgründe dafür, dass Wald abgeholzt wird. Das geht aus Studien der GFW und des in Indonesien ansässigen Centre for International Forestry Research (CIFOR) hervor.
In Indonesien wurden dafür zwischen 2001 und 2015 knapp 1,5 Millionen Hektar sogenannter Primärwald in Plantagen umgewandelt. Primärwälder sind ursprüngliche Wälder ohne sichtbare Zeichen menschlicher Eingriffe.
"Einen Primärwald kann man nicht ersetzen", sagt der Waldökologe Markus Eichhorn von der University of Nottingham. "Man kann ihn nicht einfach nachwachsen lassen, es sei denn, man ist bereit ein paar Jahrhunderte zu warten."
Je mehr die Nachfrage nach Palmöl steigt, desto mehr Firmen strecken ihre Fühler auch in andere Regionen aus. Das Kongobecken ist so ein Gebiet. Nach dem Amazonas-Regenwald ist es die zweitwichtigste Lunge des Planeten. Und auch hier sind die Wälder schon massiv durch Abholzung bedroht, z.B. für landwirtschaftliche Flächen und Holzkohleproduktion. Zwei bis drei Prozent verschwinden pro Jahr, davon viel Primärwald.
Kein Amazonas, keine Zukunft
Wälder sind ungeheuer wichtig im Kampf gegen den Klimawandel. "Wenn wir den Amazonas-Regenwald verlieren, haben wir keine Chance unser Klima zu retten", so der WWF-Experte Embert. Der weltweit größte verbliebene Regenwald sei bereits gefährlich nahe an der Schwelle von 20 Prozent abgeholzter Fläche, so Embert. Dieser Wert markiere einen Punkt, an dem das gesamte Ökosystem zu kippen drohe, der Regenwald könne "zu schwach sein, um sein Ökosystem stabil zu halten und zur Savanne werden."
Die Konsequenzen sind bereits heute in vielen Teilen Brasiliens spürbar. Ihre Wasserversorgung ist von sogenannten "Fliegenden Flüssen" abhängig: Wasserdampf aus dem feuchten Dschungel des Amazonasbeckens wird über Luftströme in Städte wie Sao Paulo getragen. Dieser Weg funktioniert nun in Teilen nicht mehr, die Fliegenden Flüsse kommen nicht über die gerodeten, trockenen Flächen. Am Ende droht Wassermangel.
Lösungen suchen und finden
Bicknell ist überzeugt, dass die Entwaldung so schnell nicht gestoppt werden kann. Naturschützer sollten sich, seiner Meinung nach, eher darauf konzentrieren, die Auswirkungen zu reduzieren, zum Beispiel den Verlust von Arten.
Schutzgebiete und indigene Territorien seien eine Möglichkeit: Die Entwaldungsraten im Amazonas-Regenwald seien hier deutlich niedriger, so Embert.
Eine weitere ist eine nachhaltige Waldbewirtschaftung: dabei werden einzelne Bäume in einem Zyklus von 30 bis 40 Jahren gefällt, um so einen intakten Wald zu hinterlassen.
Ähnlich könnte man es auch beim Anbau von Ölpalmen machen: "Man kann entweder das ganze Gebiet kahl schlagen oder einzelne (Wald-)Flächen stehen lassen, die den höchsten Wert für den Umweltschutz haben", sagt Bicknell. "Diese Flächen können besonders wichtig für seltene Arten sein und durch Korridore verbunden werden, durch die Tiere wandern können."
Neue Technologien können ebenso helfen. So setzen Naturschützer und Waldgemeinden inzwischen vermehrt Handys und Apps ein, um Schäden und Veränderungen zu registrieren und illegale Eingriffe zu melden.
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Die kleine NGO Rainforest Connection etwa nutzt ausrangierte Handys, um illegaler Abholzung auf die Spur zu kommen. Die solarbetriebenen Handys werden an Baumstämmen angebracht und senden eine Warnung an die Behörden, sobald die Mikrofone das Geräusch von Kettensägen aufnehmen. Dank GPS-Tracker des Telefons wissen Waldhüter, wo sie nach den Holzfällern Ausschau halten müssen.
"Durch solche Maßnahmen lässt sich der Wald viel leichter überwachen", sagt Eichhorn. "Dazu kommt die höhere Qualität der Satellitenbilder, die uns einen noch genaueren Blick von oben verschaffen. So werden wir immer besser."