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Dokumentarfilm über eine Dschihadistenfamilie

Sönje Storm
8. Februar 2018

Gerade noch waren sie Kinder, jetzt kämpfen sie für den Dschihad. Der syrische Regisseur Talal Derki zeigt in seinem neuen Film, welche Opfer der Bürgerkrieg Kindern und Jugendlichen abverlangt.

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Screenshot DW-Video "Kinder des Kalifats"
Bild: DW

In seinem preisgekrönten Film "Rückkehr nach Homs" nahm der in Berlin lebende syrische Filmemacher Talal Derki den Zuschauer mit in ein Land, dessen Kampf für Demokratie sich in einen Bürgerkrieg verwandelte. Seine neueste Produktion, die auf dem Sundance Filmfestival in Los Angeles als bester Dokumentarfilm mit dem World Cinema Documentary Grand Jury Prize ausgezeichnet wurde, kehrt in das kriegsgebeutelte Syrien zurück und bietet einen aufschlussreichen Einblick in das Leben der Familie eines islamistischen Kämpfers. 

Zwei Jahre lang begleitete Talal Derki einen "Soldat Gottes" der ehemaligen al-Nusra-Front in einem kleinen Dorf im Norden des Landes. Derki zeichnet das Leben eines Jungen nach, der trainiert wird, in die Fußstapfen seines Vater zu treten, um ein Dschihad-Kämpfer zu werden. Dem Regisseur gelingt es, das Grauen des Krieges und die Intimität des Familienlebens miteinander zu verweben.

DW: Sie drehten mehr als zwei Jahre im Norden Syriens, in einer Region, die von der al-Nusra-Front (heute Dschabhat Fatah asch-Scham) kontrolliert wird. Sie mussten ihren Namen und Ihre Identität geheim halten. Sie brachten al-Nusra-Kämpfer dazu, Ihnen zu vertrauen, damit Sie ihnen Einblick in ihr privates Leben gewährten. Warum nahmen Sie so ein hohes Risiko auf sich für Ihren Film?

Syria Al Nusra Front Kämpfer Symbolbild
Ein Kämpfer der (ehemaligen) al-Nusra-Front steht vor einem beschlagnahmten Gebäude in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Die Kämpfe dort werden in "Fathers and Sons" dokumentiert.Bild: picture-alliance/AP Photo

Talal Derki: Mein Leben vor diesem Krieg war ein anderes. Ich lebte damals in Damaskus. Ich hatte Film in Griechenland studiert. Die meisten Menschen, die ich in Damaskus als Filmemacher kannte, waren Künstler und hatten keinen Kontakt zu religiösen Fanatikern. Und wenn ich von religiös rede, dann meine ich Dschihadisten, Salafisten, von denen es nicht viele in Syrien gab. Nachdem die Revolution startete, drehte ich meinen Dokumentarfilm "Rückkehr nach Homs" mit Menschen, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzten.

Während der Filmarbeiten begannen die ersten Menschen in Syrien über das Kalifat zu reden. Das war im Frühling 2013, zu der Zeit, als der "Islamische Staat" ausgerufen wurde. Ich wurde zum Zeugen der Begeisterung für den IS. Es war, als hätte es eine Gehirnwäsche gegeben. Das war für mich ein großer Schock.

Als ich den letzten großen Teil des Films 2013 drehte, traf ich zum ersten Mal Dschihadisten des IS in der Wüste, im Norden von Homs. Sie waren die einzigen Menschen, die Zugang zum Internet hatten. So lernte ich zufällig einige von ihnen kennen und sah eine Möglichkeit, Zugang zu ihren Reihen zu finden. Ich glaube, andere Personen hätten es schwerer gehabt, an sie ranzukommen. Und so entschied ich, das auszunutzen. Es war eine lange Reise, seit wir 2014 starteten.

Wie war es möglich, Ihre Vergangenheit vor den Islamisten geheim zu halten?

Sie wussten nichts über mich. Ich habe alle Informationen zurückgehalten, es gab keine Fotos von mir beim Alkoholtrinken oder mit Mädchen. Und es gab ja auch noch keinen Artikel von mir über den Dschihad. Ich gab außerdem einige Interviews im Arabischen Radio und in Fernsehprogrammen, die die Opposition unterstützten. Die Kämpfer dachten, ich würde sie unterstützen. Außerdem erzählte ich, dass ich ihre Bewegung unterstützen würde und dass ich von ihnen lernen möchte.

Ihre Dokumentation ist meistens in einer "fly on the wall"-Perspektive gedreht: Die Menschen, die Sie filmen, scheinen die Kamera vergessen zu haben. Der Kameramann Kahtan Hassoun ist ein unbeteiligter Beobachter. Sie begleiten die Familie des al-Nusra-Kämpfers an die Front - ohne Kommentare, ohne Übersetzungen. Können Sie die Idee dahinter erklären?

Ich wollte die Psyche der Gemeinschaft der Dschihadisten zeigen. Ich wollte verstehen, wie sie zu dem wurden, was sie sind. Wie ticken diese Menschen? Wie sieht ihr Inneres aus? Was sind ihre Codes? Wie krempeln sie die Menschen um, wie ziehen sie sie auf ihre Seite? Ich wollte verstehen, wie sie die junge Generation von ihren Ideen überzeugen. Der Film handelt außerdem davon, wie ein Vater Gewalt an seinen Sohn weitervererbt. Es gibt dort so viel Gewalt. Wie nehmen das die Kinder wahr? Ich glaube, jeder Vater kann diesen Film sehen und etwas von sich selbst darin entdecken. Ich habe versucht, Momente mit dem Charakter von Ewigkeit zu schaffen.

Sie verbrachten mehr als zwei Jahre mit der al-Nusra-Familie. Wie gelang es Ihnen, so lange in die Rolle eines anderen Ichs zu schlüpfen?

Sundance Film Festival 2018 - Film Of Fathers and Sons
Der Filmemacher konnte über zwei Jahre bei der Familie verbringenBild: Courtesy of Sundance Institute/K. Hasson/T. Derki

Das ist harte Arbeit, Tag für Tag. Du musst vergessen, wer Du bist. Du musst Dich neu erfinden für so einen Film. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Ich wollte diesen Film unbedingt machen. Ich musste einfach. Erstens für meine eigene Sicherheit. Zweitens, um sie genau zu beobachten, um ihre Perspektive einnehmen zu können. Ich musste ihr Vertrauen gewinnen. Aber ich versuchte, die Orte zu vermeiden, an denen geschossen wurde. Ich drehte viel im Haus.

Als ich mit dem Vater unterwegs war, traf er immer Dschihadisten anderer arabischer Länder und aus Europa. Das waren gefährliche Männer, die sich nicht filmen ließen, weil sie niemandem vertrauen. Sie haben auch Erfahrung mit der Online-Recherche. Als sie mich im Internet gefunden hatten, musste ich lügen und ihnen sagen, ich sei ein Kriegsfotograf. Aber auch äußerlich musste ich mich ihnen anpassen. Ich betete mit ihnen, hörte ihnen zu und schüttelte meinen Kopf wie sie.

Ist der Film eine Art Ergebnis Ihrer Erfahrungen in Syrien? Was war da ihr ganz persönlicher Ansatz?   

Ich habe von meinem Vater gelernt, dass man seine Alpträume nur in den Griff bekommt, wenn man sie versteht. Ich wollte sie aus dem Unterbewusstsein ins Bewusstseins holen, sie aufschreiben. Das habe ich getan: Ich habe mit der Kamera geschrieben und alles festgehalten. Das war es, was ich getan habe.

Osama, einer der Jungen, den Sie in dem Film begleiten, wurde nach dem Helden seines Vater benannt, Osama bin Laden. Er verlässt am Ende seine Familie und geht in das Scharia-Militärlager. Was ist Osama für ein Junge?

Er ist sehr sensibel und ein echter Rebell. Osama log seinen Vater an. Er sagte, er würde beten, tat es dann aber nicht. Wäre er in einer anderen Familie groß geworden, wäre er ein Künstler geworden. Da bin ich mir sicher.

Wenn die Gesellschaft mehr Courage hätte, wenn es keine Gewalt gegen Frauen und Kinder gäbe, wenn Frauen gleiche Rechte hätten, wenn es ein Gesetz gäbe, das vorschreibt, dass Kinder in die Schule gehen müssen - dann würden es die Dschihadisten nicht schaffen, so viel Macht zu gewinnen. Schauen Sie sich Länder wie Irak, Afghanistan, Syrien oder Libyen an: Gewalt schafft neue Gewalt. Und das wird auch so weitergehen.