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KulturGlobal

Offener Brief verschärft "Cancel Culture"-Debatte

Stuart Braun pj
9. Juli 2020

150 bekannte AutorInnen fordern mehr Meinungsfreiheit, darunter auch J.K. Rowling und Margaret Atwood. In den sozialen Medien sorgt dieser Brief derzeit für viel Aufruhr.

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Autorin J K Rowling
Bild: Imago/APress

Der Brief befürwortet die Black Lives Matter-Bewegung und richtet sich gleichzeitig gegen den Trend des "Public Shamings" von Leuten, die anders denken. Er soll im Oktober 2020 in "Harper's Magazine" erscheinen, wurde aber bereits am 7. Juli online veröffentlicht. Darin äußern SchriftstellerInnen wie Margaret Atwood, Gloria Steinem, Martin Amis, Salman Rushdie und andere die Sorge, dass "Dogma oder Zwang" eine "offene Debatte" über das komplexe Thema Polizeigewalt und Rassismus zu verhindern drohten. 

"Schlechten Ideen begegnet man am besten mit deren Aufdeckung und überzeugenden Argumenten - nicht, indem man sie zum Schweigen bringt oder hinwegwünscht", steht in dem Brief. "Als Autoren brauchen wir eine Kultur, die uns genug Platz zum Experimentieren lässt, uns Risiken eingehen und Fehler machen lässt."

Starker Gegenwind im Netz

Die Gegenreaktion ließ nicht lange auf sich warten, zumal J.K. Rowling (Artikelbild) zu den Unterzeichnerinnen des Briefs gehört. Sie wird seit ihren kontroversen Äußerungen über Transsexuelle im Netz immer wieder als transphobisch bezeichnet, wahlweise auch als "trans-exclusionary radical feminist (TERF)" - also als radikale Feministin, die Transsexuelle ausklammert.

Jennifer Finney Boylan, Autorin und Transgender-Aktivistin, schrieb in einem Tweet, dass sie zuerst nicht bemerkt habe, dass Rowling ihn mitunterzeichnet hatte und deshalb nun ihre Unterschrift zurückziehe. "Ich dachte, ich unterstütze eine gut gemeinte, wenn auch vage Botschaft gegen öffentliche Bloßstellung im Netz", schreibt sie und fügt hinzu: "Es tut mir so leid." Direkt danach hagelte es Kritik der Unterstützer des Briefs. 

Streitbegriff "Cancel Culture"

Einige sahen das als ironisches Beispiel für genau jene "Cancel Culture", die der Brief anprangert. (Anm. d. Red.: "Cancel Culture" ist in den USA ein Trendwort, das beschreibt, wie jemand öffentlich boykottiert wird, so dass er in den sozialen Netzwerken nicht mehr sichtbar wird - mit dem Ziel, seine Meinung zu "canceln", sozusagen auszuradieren.)

Auch der politische Kommentator Judd Legum reagierte bei Twitter auf den offenen Brief. "Dieser Brief illustriert geradezu perfekt, was mich an dem 'Cancel Culture'-Sprachbild stört". "Die UnterzeichnerInnen dieses Briefs haben größere Reichweiten und Ressourcen als die meisten anderen Menschen. Sie werden absolut nicht zum Schweigen gebracht."

Nachdem auch der berühmte linke Intellektuelle Noam Chomsky unterschrieben hatte, zeigten sich viele seiner Anhänger in den sozialen Medien enttäuscht darüber. 

Einige linksgerichtete Journalisten und Kommentatoren wie Glenn Greenwald stimmten im Prinzip dem Brief zu, beklagten aber die Heuchelei von Unterzeichnern wie dem Journalisten Malcolm Gladwell, der die Schließung der News und Gossip-Website Gawker begrüßte, nachdem sie ihn mehrfach durch den Kakao gezogen hatte. Greenwald twitterte, dass einige Unterzeichner in der Vergangenheit sich exakt so verhalten hätten, wie sie es nun anprangerten.

Meinungsfreiheit oder Hate Speech?

Kritiker des Briefs argumentierten auch, dass er zu vage und allgemein gehalten sei und nicht auf Hate Speech eingehe, zu der ihrer Ansicht nach auch Rowlings Ansichten gegenüber Transsexuellen gehörten. 

Nach Aufrufen zur finanziellen Trockenlegung der Polizei und zur Entfernung von Konföderations-Denkmälern in den USA haben reaktionäre politische Kräfte die Meinungsfreiheit beschwört, um zu denunzieren, was sie selbst wiederum als "Cancel Culture" sehen. 

"Präsident @realDonaldTrump ist gegen finanzielle Kürzungen unserer großartigen Polizeibeamten. Er wird sich der Pöbelherrschaft und Cancel Culture nicht beugen, die unsere Geschichte ausradieren will", heißt es in einem offiziellen Tweet des Weißen Hauses vom 29. Juni. In seiner hasserfüllten Rede zum Unabhängigkeitstag am Mount Rushmore schimpfte Trump erneut gegen die "gnadenlose Kampagne, die unsere Geschichte auslöschen will."

Der Harper's Brief zeigt, dass sich auch Liberale in den USA gegen "Cancel Culture" stellen. Einige Kommentatoren auf Twitter sahen dies als potenzielles Ende eines langen Kulturkampfs. So wie Jack Aponte im folgenden Tweet. Er schreibt: "Wenn Trump in seiner Hasstirade am Mount Rushmore den Ausdruck "Cancel Culture" benutzt und man sich den Harper's-Brief von heute ansieht, dann können wir uns doch darauf einigen, dass das gesamte Konzept der "Cancel Culture" endlich offiziell gecancelt ist, richtig?"


 

DW Autor l Kommentatorenfoto Stuart Braun
Stuart Braun Australischer DW-Journalist und Buchautor.