Stadtführungen für ein Trinkgeld
21. Januar 2009Am Himmel über Amsterdam ist kein einziges Wölkchen zu sehen. Die Kälte kriecht sofort in die Füße und beim Ausatmen gefriert der Atem vor dem Mund zu weißen Wölkchen. Trotzdem haben sich am Nationaldenkmal auf dem Domplatz fast dreißig Leute versammelt, die eine Free Tour durch die Stadt der Kanäle mitmachen wollen. Nur noch ein Gruppenfoto, dann übernimmt die 19-jährige Australierin Lou die Führung zur ersten Station der Tour. Sie bleibt vor einer reich verzierten Kirche aus roten Ziegelsteinen mit großen Glasfenstern stehen.
Ein unbezahlter Job, der Spaß macht
"Wir befinden uns vor einer sehr alten Kirche: Sie wird De Oude Kerk genannt und ist ganze 700 Jahre alt. Ich würde also sagen, wir sind wohl im ältesten Bezirk der Stadt und es ranken sich viele Geschichten um das Viertel", erzählt Lou. Sie verrät, dass die meisten davon etwas mit Sex und Drogen zu tun haben. Dann geht es weiter, denn die Gruppe hat noch den Rest von Amsterdam vor sich - und das lediglich in drei Stunden.
Denn die Kirche befindet sich direkt neben dem Rotlichtviertel der Stadt. Schon seit Jahrhunderten diente sie als Buß-Ort für die reumütigen Matrosen, die sich von ihren Sünden freikaufen wollten. Auf dem Weg zur nächsten Station verrät Lou, wie sie letztlich bei Free Tours gelandet ist.
"Ich war seit sieben Monaten mit dem Rucksack quer durch Europa unterwegs und an meinem ersten Tag in Amsterdam sagte mir meine Bank, ich könne kein Geld mehr abheben", sagt die junge Australierin. Also musste sie quasi in Amsterdam bleiben. Inzwischen lebt sie seit circa zehn Monaten hier – kurz nach ihrer Ankunft fing sie bei Free Tours an und kennt Amsterdam mittlerweile wie ihre Westentasche. Nebenbei kellnert sie noch in einer Bar.
Pfiffiger Unternehmer
Erfunden hat die Free Tours Chris Sandeman. Er kommt aus den USA und habe selbst mal als Stadtführer gearbeitet und schnell festgestellt, dass er bereits durch das Trinkgeld ganz gut verdienten könne, erzählt Lou. Also hatte er die Idee ein ganzes Stadtführer-Unternehmen aufzubauen, das lediglich auf Trinkgeldbasis funktioniert. "Gerade für junge Leute und Studenten ist das ein toller Job: Er ist mit wenig Stress verbunden und man kommt in der Stadt rum", erklärt Lou.
Auf ihrer Tour führt sie die Leute über Kanäle, vorbei an roten Backsteinhäusern mit geschwungenen Dächern: Das jüdische Viertel, der Exekutionsplatz oder aber die alte Strafanstalt für Frauen stehen auf dem Routenplan. Anekdoten über Fahrraddiebe bringen die Tourteilnehmer trotz kalter Ohren und Nasen zum Lachen. Wer auf Trinkgeld spekuliert, muss jede Menge lustige Geschichten und kuriose Anekdoten kennen - und wissen, was die Leute interessiert. Also macht Lou natürlich auch vor dem Hasch-, Marihuana- und Hanf-Museum Halt und deutet auf die Pflanze im Fenster.
"Hier ist es, das Marihuana! Wer von euch hat Pulp Fiction gesehen", fragt sie in die Runde. "Wusstet ihr, dass Quentin Tarantino Pulp Fiction hier in Amsterdam im Betty Boop Coffee -Shop geschrieben hat?" Und obwohl er praktisch von Marihuana umgeben gewesen sei und soviel darüber gewusst habe, habe er in seinem Film trotzdem einen Fehler begangen: "Er behauptet, Marihuana wäre in den Niederlanden legal", sagt Lou. Doch natürlich sei es das nicht! "Es ist hundertprozentig verboten Marihuana zu züchten, zu besitzen, zu verkaufen, zu rauchen oder zu kaufen – nur schert sich keiner drum", begründet Lou.
Wer Spaß hat und macht, wird belohnt
Warum dies so ist, erzählt sie in einem kurzen historischen Exkurs über die massiven Probleme der niederländischen Polizei mit stark Drogenabhängigen in den 1970er-Jahren, welche die so genannten "Stonies" in den Schatten stellten. Nach zahlreichen weiteren Exkursen über Amsterdam erhält Lou schließlich tosenden Applaus, sofern das bei eiskalten Fingern in Handschuhen noch möglich ist.
Diana hat mit ihrem Freund an der Tour teilgenommen und ist absolut begeistert: "Ich mag die Stadtführerin. Besonders mag ich, wie sie auf jeden eingeht und wie sie sich gibt. Es ist sehr unterhaltsam." Und natürlich darf dann das Trinkgeld auch nicht fehlen. Im Sommer ist der Verdienst sogar etwas besser. Bald möchte Lou nach Paris oder London gehen und ein Studium anfangen. Sie ist jedoch fest davon überzeugt, dass sie auch in einer anderen Stadt als Stadtführerin von Free Tours weitermachen wird.