Oksana Lyniv: "Russen, erhebt Eure Stimmen!"
13. März 2022Nach ihrem Debüt als erste Dirigentin bei den Bayreuther Festspielen 2021 ist die ukrainische Künstlerin Oksana Lyniv ein international bekanntes Aushängeschild ihres Landes. Eines ihrer größten Anliegen besteht darin, die Jugend ihrer Heimat zu retten. Dabei ist sie zutiefst enttäuscht vom Schweigen der russischen Kolleginnen und Kollegen.
Deutsche Welle: Wie geht es Ihnen, Frau Lyniv? Wie fühlen Sie sich?
Wie Millionen von anderen Menschen in meinem Land: hilflos, weil man die Situation nicht beherrschen kann. Aber man kann dagegen kämpfen, und das machen wir.
Wie sieht es in Ihrer Heimatstadt aus, in Brody bei Lwiw?
Meine Eltern sind da, mein Bruder auch. Es gab dort Angriffe, am zweiten Tag des Krieges. Meine Mutter und ihre Zwillingsschwester, meine Tante, verstecken sich in unserem Kartoffelkeller, bei Kerzenlicht. Kleine Kinder aus unserer Familie sind weiter fort gebracht worden in die Karpaten-Gebirge, zu Freunden, wo es sicher ist. Mein Vater, ein Chorleiter, veranstaltet weiterhin Konzerte mit seinem Chor. Sie singen ukrainische Lieder, um den Geist der Menschen weiter zu stärken.
Haben Sie Angst um Ihre Familie?
Ich habe nicht nur um meine Familie Angst. Ich habe Angst um mein Land, um meine Mitmenschen, meine Nation. Ich habe auch Angst um meine Wirkungsstätten - um meine Heimatstadt Lwiw, dessen Innenstadt ja UNESCO-Weltkulturerbe ist, oder um die Nationaloper in Odessa. Denn dieser Krieg kennt keine Regeln, das Schlimmste ist, dass es gar nicht mehr um politische Fragen geht. Der russische Staat will die ukrainische Nation vernichten.
In Lwiw versucht man nun die Kulturschätze zu schützen. Zum Beispiel werden die Holzskulpturen aus der armenischen Kathedrale von Lwiw in Bunkern versteckt. Das letzte Mal ist das im Zweiten Weltkrieg geschehen. Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Musikszene sind entweder in der Armee, oder sie helfen den Flüchtlingen. Aber was ungebrochen bleibt, ist der Freiheitswille der Ukrainer.
Sie haben einen offenen Brief an Präsident Putin geschrieben. Warum war Ihnen diese Geste wichtig?
Ich habe diesen Brief symbolisch an Putin geschrieben, aber in der Tat ist es auch ein Aufruf an alle Russen, die mit ihrem Schweigen diesen Krieg unterstützen. Ich habe geschrieben: "Putin, du sollst verstehen, dass der Mensch kein physischer Körper, sondern vor allem Geist ist." Jetzt ist die Ukraine unglaublich zusammengeschweißt, von Charkiw im Osten bis Lwiw im Westen, von Kind bis Greis. Die Menschen stellen sich schutz- und waffenlos vor russische Panzer.
Präsident Putin hat vor dem Angriffskrieg eine Rede an die Nation gehalten, in der er der Ukraine sozusagen das Recht absprach, eine eigenständige Kulturnation zu sein.
Das war völliger Unsinn, was er da erzählte. Die ukrainische Kultur ist viele Jahrhunderte älter als die russische Kultur. Darum hasst er die Ukrainerinnen und Ukrainer: ohne die Ukraine kann er die Entstehung Russlands nicht erklären. Die Kiewer Rus ist die Wiege unserer Zivilisation. Die Diskriminierung der ukrainischen Kultur in Russland hat allerdings auch Tradition, das wurde schon im Zarenreich praktiziert. Es ist eben jene Strategie, die jetzt in diesen Krieg mündete.
Viele Menschen, auch aus der Kulturszene, sind zur Zeit gezwungen, die Ukraine zu verlassen. Auch junge Musikerinnen und Musiker, unter anderem jene aus dem von Ihnen gegründeten Jugendorchester der Ukraine. Wie geht es ihnen damit?
Im Moment entsteht im slowenischen Ljubljana eine Art Camp - "Music for Future", eine Anlaufstelle für junge ukrainische Musizierende, da werden jetzt sowohl junge Musikerinnen und Musiker meines Orchesters, des unter der Beteiligung der Deutschen Welle, des Beethovenfestes Bonn und des Bundesjugendorchesters 2017 entstandenen Jugendorchester der Ukraine, als auch andere musikalisch begabte Kinder und Jugendliche evakuiert. Die ersten hundert sind schon da.
Das Schreckliche ist, dass in diesem Krieg auch Schulen und Musikschulen zerstört werden, die junge Generation hat keine Perspektive. Deshalb ist es für mich so wichtig, zumindest einen Teil der jungen Kunstschaffenden zu unterstützen, Bedingungen zu schaffen, damit sie nicht mit der Musik aufhören. Wir beabsichtigen Mitglieder führender europäischer Orchester nach Ljubljana einzuladen, damit sie junge Musizierende aus der Ukraine dort unterrichten. Denn Musik ist für diese Generation oft der letzte Faden, der sie mit unserer Heimat verbindet.
Denn die aktuelle Unterstützungswelle für die Ukraine, dass überall die ukrainische Nationalhymne erklingt oder jedes bedeutende Gebäude der Welt in ukrainischen nationalen Farben ausgeleuchtet ist, das ist schön und gut, aber wie sieht es in einem halben oder in einem Jahr aus? Wenn keiner studieren kann, wenn die Strukturen zerstört sind? Wir dürfen nicht zulassen, dass die ukrainische Kultur zerstört wird. Die Kulturfront ist mindestens genauso wichtig wie die richtige Front.
Es wird jetzt heftig darüber diskutiert, ob auch russische Künstler sanktioniert werden müssen - aktuell werden etwa junge russische Musizierende von Wettbewerben ausgeschlossen, Auftritte russischer Kunstschaffender boykottiert. Wie ist Ihre Haltung dazu?
Ich verstehe schon, dass darüber diskutiert wird. Aber die Künstlerinnen und Künstler sind Vertreter ihres Staates. Klar, sie können sich von dem, was der Staat tut, distanzieren. Aber leider tun das viel zu wenige - das kann ich auch von meinen Kontakten sagen, den Künstlerinnen und Künstlern, mit denen ich schon mal auf einer Bühne gestanden habe. Es gibt einige, wie den Opernregisseur Dmitri Tcherniakov oder den Dirigenten Wladimir Jurowski, die ganz klar ihre Statements gegen den Krieg und gegen Putins Politik abgegeben haben. Andere, die vielleicht Angst hatten, sich öffentlich zu äußern, haben mir privat geschrieben. Aber wenn man sich eine so große Nation wie Russland anschaut, sind es verschwindend wenige. Leider.
Auch wenn ich weiß, dass es in Russland drakonische Strafen für jedes Wort gegen den Krieg gibt, muss ich russischen Künstlerinnen und Künstlern sagen: "Erhebt eure Stimme! Wenn ihr das nicht tut, klebt das Blut unschuldiger Opfer an euren Händen."
Das Gespräch führte Elisabetta Galla.