Olé Ticos!
17. November 2009Mittwoch, 11.11.2009: Am Ende einer langen Reise
Plötzlich taucht ein Lichtermeer aus der Dunkelheit auf. Zwischen den Bergen im Valle Central, dem großen Tal in der Mitte Costa Ricas, liegt San José und strahlt in der Nacht. 24 Stunden, nachdem ich in Hamburg zum Flughafen aufgebrochen bin, setzt das Flugzeug auf der Landebahn auf und ich bin da.
Sorglos auf dem Mittelstreifen
Meine drei (!!!) Koffer mit Mikrophonen, Kabeln und Rechnern - meine gesamte Technik wiegen gefühlte 80 Kilogramm - landen im Kofferraum und es geht auf die Stadtautobahn. Dort fallen mir die extrem entspannten Menschen auf, die es sich auf der Mittelleitplanke gemütlich gemacht haben. Die Autos rauschen vorbei - im Autobahntempo eben. Plötzlich hält eines von ihnen einfach auf der linken Spur an, drei Menschen steigen ein. Kann man so machen, wenn man mutig ist - oder aber ziemlich lebensfroh und sorglos.
Gespannt auf das pure Leben
Ist das jetzt schon "Pura Vida" - das pure, unbeschwerte Leben, das die Costaricaner gerne bei jeder Gelegenheit beschwören? Ich werde noch herausfinden, was sie mit dem Spruch für jede Lebenslage genau meinen. Ich verlasse die Stadt in Richtung Berge, fahre durch Kaffeeplantagen, um viele Schlaglöcher herum und bin da. 700 Höhenmeter über der Stadt liegt das Haus eines Bekannten und seiner Familie, bei der ich mich erst mal von dem langen Flug erholen darf. Es ist kühler hier und nicht so schwül wie im Tal. Und der Ausblick auf die beleuchtete Stadt ist von hier aus noch schöner als aus dem Flugzeug. Ich bin angekommen!
Samstag, 14.11.2009: Rein in die Stadt!
Auf dem Weg von den Bergen runter in die Stadt fahre ich durch ein Dorf, und da ist das, was viele als typisch für dieses Land bezeichnen würden: Im Zentrum der niedrigen Häuser und löchrigen Straßen liegt hier kein Marktplatz, sondern: ein Fußballplatz! Die Costaricaner lieben Fußball. Auch wenn, wie hier am ganz frühen Morgen, noch keiner gegen einen Ball tritt: Alles spielt sich um den Platz herum ab. Abends und am Wochenende ist das hier der Treffpunkt Nummer Eins, sagt mein Taxifahrer. Es ist eben kein Zufall, dass Timo sich hier ausgerechnet für ein Projekt engagiert, das "Futbol Por La Vida" heißt. Fußball verbindet Menschen - in Costa Rica vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als in manchem anderen Land. Was das für Timo und seine Arbeit bedeutet, das werde ich mir bald mal aus der Nähe anschauen.
Olé Ticos!
Heute abend gehen wir zusammen zum Fußballländerspiel Costa Rica gegen Uruguay. Das ist nicht irgendein Spiel! Sondern: Costa Ricas vorletzte Chance, sich ein Ticket für die WM 2010 zu sichern. Das Relegationshinspiel im Saprissa-Stadion ist ausverkauft. Timo hat Tickets für die Nordtribüne besorgt. Vorher treffen wir uns in seiner WG und üben schon mal costaricanische Fan-Gesänge: Olé Tico!! Die Costaricaner nennen sich selbst Ticos - weil sie Begriffe gerne mit der Endung -tico verniedlichen. Heute abend wird das Wort noch oft gebrüllt, um die Mannschaft anzufeuern. Die Ticos tun das übrigens ziemlich nüchtern: Im Stadion wird kein Alkohol verkauft.
Montag, 16.11.2009: Die Tage beginnen früh hier
Ich bin mal wieder früh aufgestanden – wie jeden Tag hier. Es wird kurz nach fünf Uhr schon hell – und da kann ich sowieso nicht mehr schlafen. In Deutschland ist es dann schon Mittag, höchste Zeit mal zu hören, was dort bei den Kollegen so Sache ist. Der Tag heute wird lang. Erstmal ein richtiges Tico-Frühstück: Gallo Pinto – Reis mit schwarzen Bohnen. Hätte ich mir nicht so lecker vorgestellt. Es wird mit Gemüse und frischem Koriander angebraten und ist so was wie ein Nationalgericht in Costa Rica.
GPS auf Costaricanisch
Wir treffen uns um sieben Uhr in Timos Büro und fahren dann gemeinsam zum Fußballplatz. Nur finden muss man das Büro erst mal! Straßen mit konsequenter Namensgebung oder Hausnummern braucht man hier gar nicht erst zu suchen. Die Adresse, die ich dem Taxifahrer sage, um ihn in etwa an die richtige Stelle zu navigieren, lautet: Zur Kirche Di San Cayetano, und dann 300 Meter Richtung Süden. Und so geht das hier ständig. Endlich weiß ich, wozu in meinem Handy ein Kompass eingebaut ist. Richtig schwierig stelle ich mir das mit der Orientierung allerdings dann vor, wenn in der Beschreibung jahrhundertealte Bäume vorkommen, die eigentlich jeder kennt und die zum Wahrzeichen einer bestimmten Kreuzung geworden sind, die aber leider vor Jahren wegen Altersschwäche gefällt werden mussten. Solche Beschreibungen werden dann nämlich nicht unbedingt aktualisiert. Wozu denn auch? Ist eben so. Pura Vida!
Der Verkehr ist dicht – die Autos unglaublich laut, und ich sehe die Abgase in grauen Wolken aufsteigen. Der Taxifahrer hat keinen Plan, wo wir hin müssen und gibt sich keine Mühe es zu verbergen. Da wir sowieso nur langsam vorankommen, bleibt er auf der sechsspurigen Straße einfach stehen, hängt einen Ellenbogen lässig aus dem Fenster und fragt einen anderen Taxifahrer, ob er vielleicht eine Idee hat, wo diese Kirche…? Der Kollege hat ziemlich viele Ideen, wie sich herausstellt. Die beiden führen eine lebhafte Diskussion. So lange bis der Lasterfahrer hinter uns protestiert, weil wir im Weg stehen. Aber immerhin: Wir waren in der richtigen Richtung unterwegs.
Hier wohnen die Kinder, die Futbol por la Vida dringend brauchen!
Nach dem Trainung fahre ich mit Timo nach La Carpio – eines der Viertel, in denen Futbol Por La Vida auch aktiv ist. Hier wohnen die Kinder, mit denen Timo trainiert. Waffen, Gewalt, Arbeitslosigkeit, Drogen und Prostitution sind hier an der Tagesordnung. Ein Elendsviertel, wie ich es selbst bislang noch nie betreten habe. Das ist hier auch nur möglich, weil ich „Geleitschutz“ bekomme: Neben Timo und seinem Chef geht noch Mercedes mit uns zusammen durch die heruntergekommenen Gassen und klapprigen Verschläge. Sie wohnt hier und engagiert sich auch für Futbol por la Vida. Sie genießt hier offensichtlich Respekt. Während wir Weißen schon mal verächtlich als „Gringos“ angeraunt werden und lodernde Blicke ernten, wird Mercedes von Kindern umarmt und von erwachsenen Männern auf Augenhöhe gegrüßt. Ohne sie könnte ich mich hier nicht einfach so umsehen, hatte mich Timos Chef gewarnt.
Geheimzeichen im Ghetto
Wir stapfen durch die morastigen Wege und balancieren über baufällige Treppen. Vorbei an Hütten aus Wellblech und Spanplatten, die fast auseinander fallen. Drinnen sieht man einen Lehmboden, eine Hütte steht direkt zwischen den vier Pfosten eines Hochspannungsmastes. Eine Frau kocht Reis vor ihrem offenen Verschlag auf einer wackligen Konstruktion aus Metallstäben. Kinder spielen auf Betonröhren, die irgendjemand hier entsorgt hat. Ein Hund steckt seine Nase in den Müll, der überall herum liegt. Von den Stromleitungen über der Straße baumeln hier und da ein paar alte Turnschuhe – ein Geheimzeichen. In dem dazugehörigen Haus werden Drogen verkauft. Das kleine Plateau, auf dem die Hütten von La Carpio stehen, fällt an den Seiten steil ab. Gegenüber klaffen schroffe Felswände, tief unten in der Schlucht rinnt ein Fluss. Dieser Ort ist wirklich von der Stadt abgekapselt. Ein Ghetto. Das alles lässt mich nicht kalt. Aber ich bin auch froh, jetzt noch besser zu verstehen, wofür Timo hier arbeitet.
Der Angriff auf den Busfahrer unserer Linie, der uns vorgestern raus aus La Carpio gefahren hat, steht kurz darauf in der Zeitung. Nur vier Stunden, nachdem ich Timo im Bus interviewt hatte, fielen dort Schüsse. Warum, das weiß die Polizei noch nicht. Klar ist nur, dass Verbrechen krimineller Banden in Costa Rica zunehmen, genauso wie der Drogenhandel.
Donnerstag, 19.11.2009
Einkaufen und Kochen mit Timo und Freunden
Nach den Fußballtrainings und der Arbeit bin ich mit Timo in der Stadt verabredet. Meine Beiträge sind fertig und gut in Deutschland angekommen – dank des kleinen Studios, das ich in meinem Hotelzimmer aufgebaut habe. Wir ziehen also los und schauen uns in der Stadt um. In San Jose selber wohnen nur ungefähr so viele Menschen wie in Bielefeld; allerdings ist die Stadt an vielen Stellen mit ihren Nachbarorten zusammengewachsen, so dass ein Ballungsraum mit ungefähr einer Million sechshunderttausend Einwohnern entstanden ist.
Ein Park ohne Rasen
In der Innenstadt geht es, mal abgesehen vom chaotischen Verkehr, einigermaßen gemütlich zu. Ein beliebter Treffpunkt ist der Parque Central. Das Wort Park weckt allerdings falsche Erwartungen! Wer hier grünen Rasen und frische Luft erwartet, der liegt leider falsch. Ein paar Palmen, Bäume und Beete hier sind das einzige, was an einen Park erinnert. Der Platz mit vielen Bänken, Beeten und Denkmälern ist gepflastert und wird zu einer Seite hin von einer sechsspurigen Straße begrenzt; auf einer anderen steht die Kathedrale, und an den anderen beiden Seiten beginnt die Fußgängerzone. Einen exotischen Touch bekommt das ganze durch das Geschrei hunderter kleiner grüner Papageien. Wenn man genau hinschaut, entdeckt man sie zwischen den Blättern eines riesigen alten Baumes. Auch in den Palmen rundum klettern einige von ihnen rum und veranstalten ein riesiges Gezeter. Von hier aus kann man einen schönen Rundgang durch die Stadt machen.
Vorgeschmack auf Weihnachten in Costa Rica
Eines der beeindruckendsten Gebäude in San Jose ist wohl das Teatro Nacional mit seinen Marmorstatuen, Deckengemälden und Goldverzierungen. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut und orientierte sich damals daran, was in Paris gerade schick war. In der Nähe stehen zwei Männer mit einem Marimbaphon am Straßenrand und verbreiten seltsam vorweihnachtliche Stimmung. Sie hacken auf ihr Instrument ein und spielen eine tropisch angehauchte Version von Jingle Bells. Gegenüber in einem Schaufenster blinkt es bunt und penetrant – der ganze Laden scheint sich auf den Verkauf von Weihnachtsdeko spezialisiert zu haben. Das meiste ist aus Plastik und quietschbunt. Es verströmt nicht ganz die Romantik und Besinnlichkeit, die wir in Deutschland mit Weihnachen verbinden. Aber es wirkt sehr fröhlich. In vielen Wohnhäusern habe ich auch schon beleuchtete Christbäume stehen sehen.
Kochkurs auf Costaricanisch inklusive Getränk
Später gehe ich mit Timo einkaufen für den Abend. Er will mit seinen Mitbewohnern kochen und drei costaricanische Freunde wollen auch noch vorbeikommen. In der Großmarkthalle gibt es exotische Früchte und einige davon habe ich noch nie gesehen. Zum Beispiel Pejiballes: kleine Knollen mit roter Schale, die man hier frisch gekocht kaufen kann. Ein Verkäufer merkt, dass wir rätseln, was das wohl ist. Er lädt uns ein zu probieren. Er schält zwei Pejiballes und hält sie uns hin. Es schmeckt salzig und erinnert mich ein bisschen an Kürbis. Sehr lecker. Für heute Abend hat Timo aber andere Pläne: es gibt Reis mit Bohnen, Fleisch, Guacamole und Kochbananen.
Nachdem wir ganze zwei Stunden lang geschnippelt und gekocht haben, biegt sich der Tisch förmlich durch. Timos Freunde aus Costa Rica schenken sich dazu ein Getränk ein, das sie „Champagner für Arme“ nennen. Sie mixen dazu Rotwein mit Bier. Auch wenn ich sonst gerne alles probiere, was ich nicht kenne – auf diese Neuentdeckung verzichte ich gerne.
Freitag, 20.11.09: Der Trip in die Karibik
„Ich fahre morgen früh mit dem Bus in die Karibik!“ Diese Ankündigung hat bei meinen Freunden zu Hause für pure Entrüstung gesorgt. Während sie den grauen November in Deutschland ertragen müssen, fahre ich in nur rund vier Stunden an einen Traumstrand – rein beruflich, natürlich…
Ich will wissen, wie Timo seine Freizeit verbringt. Das tut er am Wochenende eben am liebsten am Strand. In Costa Rica muss er sich da als erstes entscheiden zwischen Pazifik- und Karibikküste. Von San José aus erreicht man beide Küsten in ein paar Stunden. Mir will Timo heute Cahuita zeigen, ein Ort an der Ostküste mit karibischem Flair.
Rein ins Wochenende
Auf dem Weg dorthin fahren wir durch dichten Wald und grüne Berge, vorbei an Wasserfällen und riesigen Plantagen. Hier wachsen Ananas, Bananen und Kaffee.
Beim Blick durch die Scheibe bekomme ich eine Ahnung davon, warum Costa-Rica-Urlauber so begeistert sind von der abwechslungsreichen Landschaft und den vielen Pflanzen und Tieren.
Als wir da sind, schnappt sich Timo eine Hängematte und bestellt Piña Colada. Die kleine Bar gegenüber unserer Pension ist nach zwei Seiten hin offen; wir haben freie Sicht auf die staubige Straße. Kinder spielen auf dem Platz nebenan. Cahuita ist ein sehr ruhiges, verschlafenes Nest. Die Grillen machen mehr Krach als die paar Autos, die hier vorbeikommen. Wir freuen uns auf einen perfekten Tag am Strand.
Wochenende fällt ins Wasser
Doch daraus wird nichts. In der Nacht wache ich von einem dröhnenden Geräusch auf. Es regnet – nein: es schüttet! Während sich die Pfützen im Innenhof zu einem einzigen großen See zusammentun, geht dort plötzlich das Licht aus. Stromausfall!. Das kann in Costa Rica während der Regenzeit schon mal passieren, haben Bekannte mich gewarnt.
Timo und ich beraten uns. Unser einziger Tag in der Karibik – ins Wasser gefallen? So schnell lassen wir uns nicht die Tour vermasseln. Am frühen Morgen nieselt es nur noch leicht – ich packe Kamera und Mikrophon ein und stapfe tapfer mit Timo Richtung Meer. Nur zwei Minuten, dann sind wir da. Der Sandstrand mit den Palmen gehört zum Cahuita-Nationalpark. Ein Paradies, dessen schönstes Gesicht man an diesem Tag nur erahnen kann. Das Meer ist nicht tiefblau, sondern braun vom Schlamm, den die Flüsse bei dem heftigen Regen aus den Bergen angespült haben. Baden fällt heute also aus.
Traumstrand fällt heute aus
Wir sehen genau drei Tiere: zwei Vögel, die sich gut unter irgendwelchen Blättern versteckt haben, und einen kleinen Frosch, der in den Wassermassen die Orientierung verloren zu haben scheint. Und es wird wieder schlimmer. Ich bin froh, dass ich eine wasserfeste Landkarte von Costa Rica gekauft habe. Die muss jetzt erst mal herhalten – ich wickele Mikrophon und Kamera darin ein und hoffe, dass sie sie vorerst trocken hält. Zurück in der kleinen Bar von gestern Abend frage ich nach einer Plastiktüte. Die Frau mit den Rasta-Locken zieht eine Augenbraue hoch und fragt nur: „Big?“ Ja, eine ganz große bitte, dann stopfe ich gleich meinen ganzen Rucksack da rein. So kommt es, dass ich an meinem bisher einzigen Tag in der Karibik mit einem schwarzen Plastikmüllsack über der Schulter unterwegs bin und völlig aufgeweicht am Busbahnhof ankomme. Reporterin triefnass – Equipment trocken. Andersrum wäre noch blöder.
Autorin: Stefanie Hornig
Redaktion: Birgit Görtz