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"Rassismus nicht gesehen"

Das Interview führte Andrea Grunau22. August 2013

Sebastian Scharmer und andere Nebenklage-Anwälte im NSU-Prozess nennen den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses inkonsequent. Ihnen fehlt der Hinweis auf einen Systemfehler in den Behörden: Rassismus.

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Porträt Rechtsanwalt Sebastian Scharmer (Foto: Kanzlei Hummel.Kaleck, Berlin)
Bild: Kanzlei Hummel.Kaleck, Berlin

DW: Der Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund", kurz NSU, hat einen Abschlussbericht mit gemeinsamen Empfehlungen erstellt. Warum kritisieren Sie und andere Anwälte von Hinterbliebenen der Opfer diesen Bericht?

Sebastian Scharmer: Zunächst ist der Untersuchungsausschuss durchaus dafür zu loben, dass er versucht hat, eine möglichst umfassende Aufklärung herbeizuführen. Das ist in der begrenzten Zeit von eineinhalb Jahren und der Vernehmung von 90 Zeugen und einigen Sachverständigen natürlich nicht vollständig gelungen. Aber man muss anerkennen, dass die Obleute sich stark bemüht haben, das gegen den Widerstand mehrerer Behörden durchzusetzen. Umso mehr erstaunt es, dass das überparteiliche Ergebnis, die gemeinsame Bewertung und die Konsequenzen, die gezogen werden sollen, nicht überzeugen. Wir sehen das als inkonsequent an, weil das Grundproblem, nämlich der institutionelle Rassismus, nicht gesehen wird.

Was genau meinen Sie damit?

Institutioneller Rassismus meint, dass es unabhängig von der Anschauung einzelner Polizeibeamter eine innere Logik, Normen und Werte gibt, denen die Ermittlungsbehörden folgen, aus denen sich rassistische Konsequenzen wie bei den Ermittlungen bei der Mord- und Anschlagsserie des NSU ergeben. Das ist unabhängig von Fehlern einzelner Ermittler und ein strukturelles Problem.

Was sind die wichtigsten Belege dafür? Die Ermittler haben sich auf das Umfeld der Opferfamilien mit türkischer und griechischer Herkunft konzentriert, aber es sagt sicher kein Ermittler, "Wir hatten Vorurteile gegen Ausländer" oder "Wir waren auf dem rechten Auge blind"?

Nein, das sagt tatsächlich keiner. Wir haben schon mehrere Ermittler im Prozess vor dem Oberlandesgericht München erlebt. Entschuldigt hat sich von denen keiner für die falsche Richtung, in die jahrelang ermittelt wurde. Der leitende Ermittler in München beispielsweise hat gesagt, man solle nicht so tun, als würde es keine türkische Drogenmafia geben, selbstverständlich hätten sie im Bereich organisierter Kriminalität gesucht. Das ging mit der Prämisse einher, dass "Ausländer" auch von "Ausländern" umgebracht worden sein müssen. Man hat umfangreiche Ermittlungen bis in die Türkei eingeleitet.

Beispiele aus Dortmund: Sämtliche Zigarettenschachteln aus dem Kiosk des Ermordeten wurden darauf untersucht, ob sie versteuert waren, das waren sie natürlich. Dann gab es den "tragenden Hinweis" der Polizei auf organisierte Kriminalität, nämlich die Tatsache, dass der Kleinunternehmer Mehmet Kubasik Bargeld in seinem Portemonnaie hatte. Im Haus der Kubasiks und der Umgebung wurde mit Hunden nach Drogen gesucht, obwohl es überhaupt keinen Bezug von Mehmet Kubasik zu irgendwelchen Drogengeschichten gab. Aber natürlich musste ein ermordeter Mann aus der Türkei im Bereich der organisierten Kriminalität zu suchen sein und deswegen musste es auch etwas mit Drogen zu tun haben. Auf dem rechten Auge hat man hingegen gerade in Dortmund nirgendwohin geschaut.

Gab es denn andere Hinweise, die man nicht ernst genug genommen hat?

Es gab eine ganze Reihe von Hinweisen. Wir haben an mehreren Tatorten, auch in Dortmund, Zeugen gehabt, die Radfahrer gesehen haben, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tat und mit Schussgeräuschen gesehen wurden. Das sollte ein Punkt sein, wo man als Ermittler eigentlich hellhörig werden müsste, gezielt nach diesen Radfahrern zu suchen und entsprechende Theorien aufzustellen. Die Radfahrer wurden von mehreren Zeugen ausdrücklich nicht als südeuropäisch eingeordnet.

Die gleichen Fakten kennt auch der Ausschuss, wie erklären Sie sich die andere Beurteilung in der gemeinsamen Erklärung im Untersuchungsgremium?

So anders beurteilen wir das nicht, denn einzelne Parteien und Fraktionen teilen die Wertung, dass auch institutioneller Rassismus eine Ursache für das Ermittlungsversagen ist. Warum diese Bewertung nicht insgesamt von allen Obleuten vorgenommen wird, kann ich nicht sagen. Eine Vermutung von mir wäre, dass das möglicherweise mit der nahenden Bundestagswahl für einige Parteien oder Fraktionen problematisch erscheint.

Welches sind Ihre wichtigsten Forderungen als Anwälte der Opferfamilien?

Es bringt nichts, von Fehlern Einzelner auszugehen und einen blinden Aktionismus an den Tag zu legen wie beispielsweise bei der gemeinsamen Neonazi-Datei. Man muss die Ursache sehen und das ist der institutionelle Rassismus, der in den Behörden an der Tagesordnung ist. Den gibt es nicht nur in Deutschland. Man muss das klar benennen: Morde hätten verhindert werden können.

Wir wollen, dass der U-Ausschuss in der nächsten Legislaturperiode erneut eingesetzt wird, um weiter aufzuklären. Wir wollen auch eine konsequente Änderung der Strukturen bei Polizei und Staatsanwaltschaft und dass in Zukunft bei jedem Gewaltverbrechen in den Akten vermerkt wird, ob ein rassistischer oder neonazistischer Hintergrund ausgeschlossen werden kann. Wenn nicht, dann sollen an den Ermittlungen Polizeibeamte beteiligt werden, die sich in der rechten Szene auskennen. Das gleiche gilt für Staatsanwaltschaften.

Ein wichtiger Punkt ist auch, dass Beamte mit Migrationshintergrund geworben werden, und zwar auch für Führungspositionen. Wir fordern die Einführung einer Quote. Was sicher von den Forderungen vieler Obleute abweicht, ist, dass wir fordern, das V-Mann-System der Verfassungsschutzbehörden aufzulösen. Nach unseren Erfahrungen auch im Verfahren in München ist es so, dass man sagen kann, es hat die rechtsradikale Entwicklung jedenfalls mehr gefördert, als dass es sie verhindert hat. Auf Landes- und Bundesebene wollen wir unabhängige Ansprechpartner für Betroffene von institutionellem oder persönlichem Rassismus oder für sogenannte Whistleblower.

Sie melden sich als Anwälte zu Wort, wie wichtig ist Ihrer Mandantin Gamze Kubasik ein solcher Abschlussbericht?

Für Gamze Kubasik ist Aufklärung wichtig. Neben der Frage der Mitverantwortung der Behörden ist es die Frage: Warum ihr Vater? Wie kam es zur Auswahl des Kiosks in Dortmund? Auf diese Frage hat der U-Ausschuss leider trotz engagierter Arbeit keine Antwort gefunden, die Aufklärung muss weitergehen. Gamze Kubasik hat mit mir die Forderungen durchgesprochen. Sie teilt sie und findet es gut, dass wir dazu Stellung nehmen. Denn letztlich ist ihr wichtig, dass sich etwas ändert und andere nicht das gleiche Schicksal durchleiden wie sie und ihre Familie.

Rechtsanwalt Sebastian Scharmer hat in Berlin die gemeinsamen Forderungen von 17 Nebenklage-Anwälten der NSU-Opferfamilien vorgestellt. Er vertritt beim NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München die Nebenklägerin Gamze Kubasik. Ihr Vater Mehmet Kubasik wurde am 04.04.2006 in seinem Kiosk in Dortmund erschossen und gilt als achtes Opfer der NSU-Mordserie.