"Was ist ein Menschenleben wert?"
23. März 2017Deutsche Welle: Zwei Jahre liegt der Absturz der Germanwings-Maschine zurück. Wie ist diese Zeit für Ihre Mandanten verlaufen?
Roland Krause: Man kann wohl sagen, dass sie nach einer ersten Phase des ungläubigen Schocks über die Unglücksursache in den ersten Monaten zu einem Punkt gekommen sind, wo sie akzeptiert haben, was passiert ist, aber nicht den Verlust vom Vater oder den Kindern akzeptiert haben.
Später zeigte sich, wie schwierig Entschädigungszahlungen sind. Gerade in Deutschland haben wir eine unsägliche Odyssee hinter uns, um im kleinen Maße das Leid finanziell zu kompensieren. Natürlich kann man nie den Tod der Kinder oder des Ehepartners mit Geld aufwiegen - was ist ein Menschenleben wert? Aber unsägliche Diskussionen führen zu müssen über die Angemessenheit einer Grabinschrift - ob sie mit weißer Farbe oder doch mit Goldlettern angemessen ist -, das hat viele sehr belastet. Belastend war auch, dass immer wieder psychologische Gutachten eingeholt werden mussten, um festzustellen: Ist das wirklich eine Belastung etwa für die Großmutter, dass das Enkelkind gestorben ist? Nur dann gibt es ein eigenes Schmerzensgeld.
Sie haben viele spanische Mandanten, gibt es da große Unterschiede?
Ganz frappierend ist, dass die Entschädigungssummen immens abweichen. Wir waren alle erstaunt, als wir feststellten, dass es in Deutschland sehr wenig gibt für den Erwerbsausfall, wenn der Familienernährer ums Leben gekommen ist. Es wird geschaut, wie viel er verdient hat und welche Unterhaltsansprüche Kinder haben, aber der immaterielle Schaden, was der Verlust des Menschenlebens eigentlich ist, das wird in Deutschland mit wenigen tausend Euro beziffert. Eine Mandantin, die ihren Mann verloren hat, muss vermutlich ihr Haus verkaufen, weil sie als Unter-40-Jährige nur zwei Jahre Rente erhält. Sie schafft es noch nicht, wieder zu arbeiten.
In Spanien werden hohe fünfstellige Werte für jeden Hinterbliebenen angesetzt. Das hat einen Hintergrund: Vor zehn Jahren stürzte in Madrid eine Maschine beim Start ab. Das hat der spanische Gesetzgeber zum Anlass genommen, die Gesetze im Sinne der Opfer erheblich zu verbessern.
Das würden Sie sich auch für Deutschland wünschen?
Ja. Wir können aus zwei Jahren Erfahrung sagen, dass viele Familien sehr gefasst sind und zwei Dinge möchten. In erster Linie wollen sie wissen, was genau passiert ist. In zweiter Linie wollen sie verhindern, dass andere Familien noch einmal diese Tortur durchleben müssen, um jeden Cent kämpfen zu müssen. Wenn man zwei Jahre in einer Opferrolle ist und beweisen muss, dass der Schmerz des Verlustes groß ist, dann empfindet man das als unwürdig.
Wir würden uns auch in Deutschland eine Gesetzgebung wünschen, die statt der jetzt angebotenen wenigen tausend Euro generell bei einem Flugzeugabsturz zum Beispiel 250.000 Euro vorsieht - und zwar ohne Verschuldensfrage. Wenn das zügig innerhalb von drei Monaten gezahlt würde, wäre den Familien seelisch geholfen. Ich denke, es würde kaum einer klagen. Ihr Leid, das dadurch hervorgerufen wird, dass sie alles den Psychologen erzählen und beweisen müssen, wäre sicher erheblich gemindert.
Die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf hat im Januar die Ermittlungen mit der Feststellung abgeschlossen, dass nur Copilot Andreas Lubitz verantwortlich für den Absturz sei. Geprüft worden war - auch auf Ihren Antrag - ob Ärzte, Kollegen oder Angehörige etwas von einer Suizidabsicht hätten wissen können. War dieser Schlusspunkt eine Erleichterung für Ihre Mandanten?
Nein, im Gegenteil, er war eine Enttäuschung. Sie sagen, wenn ein System der Kontrolle bei der Luftfahrtaufsicht versagt hat, könne nicht eine einzelne Person verantwortlich gemacht werden, da hätten viele einen kleinen Anteil. Ob das die Ärzte waren, die Lebensgefährtin oder die Eltern, irgendwie habe sicher jeder zu einem gewissen Grad beigetragen.
Besonders schockierend ist, dass fast genau auf die Minute zwei Jahre nach dem Absturz der Vater von Andreas Lubitz vor der Presse beweisen will, dass sein Sohn eben nicht verantwortlich war. Für die Angehörigen ist das ein Schlag ins Gesicht.
Wie haben Ihre Mandanten reagiert?
Sie sind einfach fassungslos. Anfang der Woche ereilte uns diese Einladung zur Pressekonferenz. Der Vater lädt ein für 10:30 Uhr - genau die Zeit, zu der sein Sohn vor zwei Jahren den Absturz eingeleitet hat und die Maschine in den Berg lenkte, während sich die meisten Angehörigen anlässlich des Jahrestages mit den Vorsitzenden von Lufthansa und Germanwings in Südfrankreich befinden. Ich habe mehrere E-Mails bekommen - unsere Mandanten haben nur ein Wort geschrieben: "Unfassbar".
Der Vater des Copiloten will weitere Ermittlungen, die hatten Sie auch beantragt. Widerspricht das nicht der Sehnsucht nach einem Schlusspunkt?
Das würde man erst einmal denken, aber im Gespräch mit unseren Mandanten habe ich erfahren, dass viele nach zwei Jahren an einem Punkt sind zu akzeptieren, was passiert ist, aber sie wollen genau wissen, warum an einigen Stellen dieses Kontrollsystems Schräubchen nicht funktioniert haben. Sie wollen genau wissen, wer nicht funktioniert, um zu vermeiden, dass noch einmal so etwas passiert. Viele sagen: Ich kann zwar meinen Angehörigen nicht mehr wiederbekommen, aber zumindest das System soll so sicher werden, dass es nie wieder passieren kann.
Rechnen Sie nach der Erklärung der Staatsanwaltschaft vom Januar noch mit neuen Ermittlungen?
Das kann man für Deutschland wohl ausschließen. Seitens der Staatsanwaltschaft besteht definitiv nicht die Absicht, dies noch einmal aufzugreifen. Das müsste schon ein politischer Wille sein. Man muss sich auch fragen, ob wir als Anwälte den Mandanten einen Gefallen tun, wenn wir massiv versuchten, das zu beeinflussen. Wir stoßen da auf Ablehnung.
Unsere Hoffnung bleibt natürlich, dass die französischen Richter weiter ermitteln und Klarheit schaffen.
Roland Krause ist Rechtsanwalt in Berlin und Barcelona. Er ist auf internationales Privatrecht spezialisiert. Gemeinsam mit Kollegen vertritt er 81 Familien in Deutschland und Spanien, deren Angehörige beim Germanwings-Absturz am 24. März 2015 getötet wurden.
Das Interview führte Andrea Grunau.