Neue Kirchenlieder
25. März 2016"Singet dem Herrn ein neues Lied", dazu fordert ein Vers auf in den Psalmen - ihrerseits Jahrtausende alte Lieder und gesungene Gebete der jüdisch-christlichen Glaubenstradition. Gott ein neues Lied zu singen, ihrem Glauben, den Festen und Riten eine musikalische Dimension zu geben, sind Christen in der Kirchengeschichte eifrig nachgekommen. Mit dem Ergebnis, dass christliche Popmusik, also Rock, Gospel, Pop und Jazz immer beliebter geworden sind in den Gemeinden.
"Wir haben in den Kirchen einen ähnlichen kulturellen Bruch wie auch in der Musik an sich", sagt Albert Frey, einer der bekanntesten Interpreten, Texter und Produzenten christlicher Popmusik. Vom klassischen Musikstil, den Chorälen, hätten sich inzwischen seit zwei Generationen viele Gläubige verabschiedet: "Es ist nicht mehr deren Herzensmusik, mit der sie ihre Gefühle ausdrücken. Popmusik ist dagegen die Musik, mit der wir aufwachsen, mit der wir uns verlieben, die dabei hilft, die schönen Momente des Lebens zu gestalten", so Frey im Gespräch mit der DW. Ganz verschwunden ist der Gegensatz zwischen dem, was in den Kirchen gesungen wird, und dem, was viele dort eigentlich gerne singen würden, keineswegs.
Reiches kulturelles Erbe
Die Blütezeit des christlich motivierten Liederdichtens in Deutschland begann vor rund 500 Jahren, an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Vor allem in der noch jungen evangelischen Kirche entstanden nach der Reformation von 1517 hunderte von Glaubensliedern. Sie dienten nicht nur der geistlichen Erbauung, sondern auch dem Verfestigen christlichen Wissens. Lesen und schreiben konnten damals die wenigsten Menschen, Lieder lernen und singen, schon.
Zug um Zug wuchs ein kultureller Schatz, zu dessen Prunkstücken etwa Choräle von Martin Luther, Paul Gerhardt, Philipp Friedrich Hiller, Philipp Spitta oder Gerhard Tersteegen gehörten. Hinzu kamen später die sogenannten Heilslieder verschiedener geistlicher Bewegungen. Jede Epoche brachte ihre speziellen Lieder hervor.
Trost in Kriegen und Krisen
Häufig entstanden ihre Texte in Kriegs- und Notzeiten. Kaum zu glauben, dass Paul Gerhard, der heute gerne anerkennend als "Psalm-Dichter der Christenheit" bezeichnet wird, viele seiner brillanten Texte während des Dreißigjährigen Krieges schrieb, dessen Nöte er hautnah erlebte. "Ich musste mir mühsam den Zugang zu Chorälen erarbeiten, weil dieser Stil überhaupt nicht meiner musikalischen Tradition entspricht", sagt der evangelische Theologe und Musiker Klaus Göttler. "Ich habe aber mit der Zeit manche Texte aufgrund ihrer Tiefe schätzen gelernt, weil man merkt: Das hat der Dichter leidvoll durchlebt."
Nicht wenige Lieder evangelischer Autoren waren so gehaltvoll, dass sie in der Folgezeit auch in katholische Gesangbücher übernommen wurden. Allerdings blieben die Millionen-Auflagen von Gesangbüchern der evangelischen und katholischen Volkskirchen bis an die Schwelle des 3. Jahrtausends nahezu eine Sammlung alter, traditioneller Lieder, die zunehmend den sprachlichen, musikalischen und gesellschaftlichen Entwicklungen hinterherhinkten.
Streit: Orgel oder E-Gitarre?
Das änderte sich in den 1960er Jahren - erst allmählich, später rasant. Immer mehr Autoren drückten ihr Lebens- und Glaubensgefühl in zeitgemäßer Sprache aus. Ermutigt durch die musikalischen Revolutionen in der internationalen nicht-kirchlichen Popmusik wurden auch die Komponisten geistlicher Musik mutiger, Neues zu wagen. Vorreiter waren US-amerikanische Komponisten und Texter. Die verschiedensten Stile fanden im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte den Weg in kirchliche Gemeinden: Sakropop, Rock, Gospel Singer-Songwriter und Lobpreis-Lieder. Dazu zählten bereits früh die melodischen Gesänge der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé in Frankreich.
Bis in die 1990er Jahre hinein sorgte diese neue geistliche Musik jedoch in zahlreichen Gemeinden für teils erbitterten Streit - besonders in landeskirchlichen. Vom Kampf "Orgel gegen E-Gitarre" war mancherorts die Rede. Klaus Göttler betont im DW-Interview, dass vor allem "Kirchenmusiker den Verlust des Kulturguts der klassischen Kirchenlieder befürchteten". Das Schreckgespenst Popmusik gebe es inzwischen nicht mehr - wohl aber die Sorge, dass die alten Choräle verloren gehen. "Heute dreht sich die Diskussionen eher um die Gewichtung von alter und neuer Musik." Göttler begrüßt es, dass "inzwischen viel mehr Kirchenmusiker im popularmusikalischen Bereich unterwegs sind".
Musikalische Unterschiede
Im traditionellen Sonntagmorgen-Gottesdienst der evangelischen Volkskirche dominiere noch immer das traditionelle Liedgut, sagt Albert Frey. "Die neuen Lieder werden eher gesungen in speziellen Gottesdiensten für Jugendliche, junge Erwachsene, Familien oder nicht-traditionelle Kirchenbesucher." In den Freikirchen sei neue geistliche Musik insgesamt stärker verbreitet, so Frey. Er weiß, wovon er spricht, setzt er doch seit vielen Jahren Akzente in und mit dieser Musik. "Neuere Freikirchen und charismatische Gruppen, singen überwiegend aktuelle Musik der letzten 20 Jahre."
Als "große Enttäuschung für Popmusiker" bezeichnet der Katholik das in den Jahren 2013/14 eingeführte "Gotteslob", also das Gesangbuch der römisch-katholischen Kirche. "Da haben sich Traditionalisten durchgesetzt, sowohl stilistisch als auch theologisch."
Die Frage ist, ob ein Gesangbuch überhaupt eine permanente Aktualisierung leisten kann. Theologe Göttler sagt: "Nein, die Gesangbücher fassen jene Lieder zusammen, die die Zeit überdauert haben." Außerdem ziehe sich der Entstehungsprozess für die klassischen Gesangbücher "Gotteslob" und "Evangelisches Gesangbuch" über viele Jahre. Das sei entschieden zu lang, um aktuell sein zu können.
Neue Liederbücher
Aus diesem Grund komme solchen Liederbüchern eine wichtige Rolle zu, die die klassischen Gesangbücher ergänzen. Davon gibt es erstaunlich viele. Klaus Göttler und Albert Frey investieren viel Engagement in die Erfolgsreihe "Feiert Jesus", deren fünfter Band gerade in der Mache ist. Bisher seien über 800 Glaubenslieder in einer Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren erschienen, so Göttler.
Zu den aktuellen Liederbüchern sind in der Regel begleitende CDs im Angebot. Überraschend viele der Lieder können der Kategorie "Lobpreis" oder neudeutsch "Worship" zugeordnet werden, einem Genre, das vor etwa 40 Jahren in den USA entstand: Emotionale Gebets- oder Anbetungslieder mit eingängigen Texten in einer frommen Sprache und in der Form moderner Popmusik.
Alte Schätze wieder zum Glänzen bringen
So sehr sich Göttler und Frey für neues christliches Liedgut ins Zeug legen, so sehr liegen ihnen andererseits die alten, seit Jahrhunderten bewährten Lieder am Herzen. Deshalb versuchen sie mit neuen Produktionen Brücken zu schlagen zum traditionellen geistlichen Repertoire. Wenn Gitarrist Göttler mit seinen "Christmas Acoustics" und "Choral Acoustics" unterwegs ist, passiere es immer wieder, "dass mir Konzertbesucher sagen: Wegen ihrer Melodien habe ich im Gesangbuch noch mal die Liedtexte nachgeschlagen und ganz neu schätzen gelernt", erzählt er.
Von ähnlichen Erfahrungen berichtet Albert Frey, der Konzerten gerne eine besondere Note durch den ein oder anderen traditionellen Choral gibt. Die Resonanz des Publikums ist einer der Gründe dafür, dass Frey jetzt gemeinsam mit dem Musiker und Produzenten Lothar Kosse etwas Besonderes gestartet hat: "Das Liederschatzprojekt". Erschienen ist gerade die erste von drei CDs, auf denen 36 ausgewählte alte Choräle zu hören sind. Text und Melodie wurden beibehalten. "Verändert haben wir die Art der Interpretation, etwa mittels eines durchgehenden Rhythmus und einer verbesserten rhythmischen Struktur." Die Akkorde habe man vereinfacht zu einem Popmusik-Gefühl. Herausgekommen sei behutsam akustisch veränderte Musik, mit der möglichst viele Generationen etwas anfangen können."
Die Kirchenmusik der Zukunft
Welche Lieder Christen in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten singen werden, darüber wagen beide Musiker nur dezente Prognosen. "Es ist wie in den Charts", sagt Klaus Göttler: "Nur die Perlen überdauern die Zeit." Es sei schon immer so gewesen, dass mache Lieder für bestimmte Situationen und Zeiten geschrieben worden seien. "Ich meine: Auch kirchliche Lieder müssen nicht zwingend für die Ewigkeit gemacht sein."
Für Albert Frey ist nicht in erster Linie die Art der Lieder entscheidend, sondern dass "keine kulturell distanzierte Musik" gesungen wird. "Die Lieder müssen eine Verbindung zwischen dem inneren Erleben und den ewigen Dingen herstellen." Das Kulturgut der geistlichen Lieder wird den Deutschen demnach nicht verloren gehen.