Wunder Ostasiens
17. April 2009
Es ist eine der gesichtslosen Hochhaussiedlungen in Seoul, in der Yoon Nyung Chang mit ihrer Familie wohnt. Platz ist knapp in der Metropole, deshalb wird nach oben gebaut. Im Großraum der südkoreanischen Hauptstadt wohnen fast 20 Millionen Menschen. Wir fahren mit dem Fahrstuhl in den 15. Stock, um Yoon Nyung Chang zu besuchen. Sie will uns ihr Wohnzimmer zeigen. Für "Global 3000“, dem Globalisierungsmagazin auf DW-TV, produzieren wir an diesem Tag eine Folge der Reihe "Das globale Wohnzimmer“. Menschen aus der ganzen Welt zeigen, wie sie wohnen. Frau Chang empfängt uns mit der typisch koreanischen Herzlichkeit. Sie ist Ende Dreißig, ihr Mann arbeitet bei der Stadtverwaltung, die 13-jährige Tochter geht auf die Oberschule. Das Wohnzimmer ist modern eingerichtet. Ein riesiger Flachbildfernseher, eine Couch, niedrige Bücherregale, wenig, was man als typisch koreanisch bezeichnen würde.
Gewinner der Globalisierung
Die Koreaner leben modern – besonders in den Städten. Altes und Traditionelles findet man kaum. Frau Chang zeigt uns stolz Mitbringsel von Reisen. Einmal im Jahr verreisen, das ist ein Luxus, den sie sich mit ihrer Familie gönnt. Den Nußknacker, der im Wohnzimmer thront, hat sie aber nicht aus Deutschland, sondern aus einem südkoreanischen Supermarkt. Familie Chang ist typisch für die breite südkoreanische Mittelschicht, die von der Globalisierung profitiert. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei über 20.000 US Dollar im Jahr. Südkorea hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einem Agrarland zu einer Industrienation entwickelt mit wettbewerbsfähigen und international nachgefragten Produkten. Jeder zweite Flachbildschirm ist koreanischer Herkunft und Marken wie Hyundai oder LG sind weltweit bekannt.
Wirtschaftsboom mit hohem Tempo
Beeindruckend ist die Geschwindigkeit, mit der die Koreaner die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben. In Hannam-dong, einem bürgerlichen Viertel in der südkoreanischen Hauptstadt, liegt die deutsch-koreanische Außenhandelskammer. Das Büro von Carsten Lienemann, stellvertretendem AHK-Chef in Seoul, ist im 10. Stock eines Hochhauses. Der Volkswirt, der fließend koreanisch spricht, schaut direkt auf eine riesige Baustelle. Innerhalb weniger Monate entsteht ein Luxusappartmentblock. Ein halber Berghang wird bebaut. Die Kammer ist mit über 400 Mitgliedsunternehmen vergleichsweise groß.
Lienemannn betont die Bedeutung Südkoreas für deutsche Unternehmen. Deutschland ist mit Abstand der größte Investor aus der EU in Südkorea. Die Bindungen sind traditionell eng. Im vergangenen Jahr wurde sogar das 125-jährige Jubiläum der deutsch-koreanischen Beziehungen gefeiert. "Schon zu Zeiten des Kaisers gab es einen Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und Korea“, erzählt Lienemann, der sich intensiv mit der Geschichte befasst hat. Vom koreanischen Wirtschaftswunder der letzten Jahre haben auch deutsche Firmen profitiert. „Deutsche Unternehmen beschäftigen in Südkorea über 100.000 Menschen“, sagt Lienemann stolz. Automobilzulieferer wie Bosch fertigen in Südkorea und zahlreiche Mittelständler wie die Firma Trumpf aus Baden-Würtemberg. Sie sind hier, weil sie für die koreanische Investitionsgüterindustrie zuliefern, für die Werften, für Kraftwerke, aber auch für Automobilhersteller.
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Billiglöhne in Nordkorea
Und wie sieht es mit dem Engagement in Nordkorea aus? Lienemann berichtet, dass im nordkoreanischen Kaesung ein Industriekomplex entstanden ist, den Süd - und Nordkoreaner gemeinsam betreiben. Eine deutsche Wirtschaftsdelegation will sich das in den nächsten Wochen anschauen. „Die gesamte Infrastruktur, jeder Pflasterstein, jede Lampe kommt aus Südkorea“, sagt er. „Die Arbeiter aber sind aus dem Norden. Sie machen dort Lohnfertigung, z.B. Schuhe oder Textilien im Auftrag der Südkoreaner.“ Diese zahlen 60 US-Dollar im Monat für jeden eingesetzten Arbeiter aus Nordkorea. Wieviel von diesem Lohn tatsächlich beim Arbeiter ankommt, weiß keiner. Viel wird es nicht sein. Über die wirtschaftliche Lage in Nordkorea ist wenig bekannt. Im Süden erzählt man sich, dass das Leben im Norden immer schwieriger wird und dass die Leute im Norden zu wenig zu essen haben.
In den Zeitungen stehen Berichte von nordkoreanischen Überläufern. Schlagzeilen macht während unseres Aufenthalts die Frau eines hohen Funktionärs, die mit ihren zwei Kindern geflüchtet ist. Die vorsichtige politische Annäherung beider Länder ist weitgehend ausgesetzt, seitdem Nordkorea einen international verbotenen Raketenstart durchgeführt und seine Propaganda gegen den Süden wieder verschärft hat.
Skepsis beim Thema Wiedervereinigung
Wenn man mit jungen Südkoreanern spricht, dann ist für sie der Norden sowieso ein fremdes Land. Sie empfinden kaum eine Bindung an den Norden, haben sogar Angst vor einer möglichen Wiedervereinigung, weil das den Wohlstand Südkoreas gefährden könnte. "Bei Euch in Deutschland war das doch auch so schwierig“, sagen sie. Ganz anders dagegen die Alten, die noch immer von einer Wiedervereinigung träumen und vor allem hoffen, Familienmitglieder wiederzusehen.
Generation High-Tech
In der überfüllten Seouler U-Bahn dann ein Blick ins technikverliebte Korea. Die Menschen stehen dicht gedrängt, Körper an Körper. Die meisten haben trotzdem Handys in der Hand, schicken Video-Nachrichten oder schauen Fernsehen auf ihrem Mobiltelefon. Die Südkoreaner wollen immer das Neueste haben. Manch einer hat zwei oder drei Handys und wenn eines davon klingelt, wird immer geantwortet – selbst wenn man gerade ein Vier- Augen-Gespräch hat.
Schöne neue Cyberworld
Internetcommunities sind ein Massenphänomen. Cy World ist das größte Portal für private Webseiten, betrieben von der Sk Telekom. Viele Südkoreaner haben bei der Firma einen eigenen Webauftritt, mit Familienfotos, Texten, Spielen und mehr. Das Geschäftsmodell ist lukrativ. Der einfache Basisdienst ist kostenlos, der Rest muss extra bezahlt werden. Dafür gibt es eine eigene virtuelle Währung. "Dottoris“, "Eicheln“, die man auch verschenken kann. Gerade bei Jugendlichen kommt das gut an. Das Internet hat heute in Südkorea einen viel größeren Einfluss als Zeitungen. Zu welchen Auswüchsen es dabei kommen kann, zeigt der tragische Selbstmord der Schauspielerin Jin-Sil Choi. Die bekannte Schauspielerin wurde von Stalkern im Netz verfolgt, die unter anderem behaupteten, dass sie ein Verhältnis mit einem Kredithai hätte oder einen anderen Menschen in den Selbstmord getrieben habe. Diese Unterstellungen konnte sie nicht mehr ertragen und nahm sich das Leben. Ihr Schicksal führte zu heftigen Diskussionen in Südkorea.
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Krise im Wirtschaftswunderland
Ein anderes Thema, das Menschen und Medien beschäftigt, ist der Umgang mit der Wirtschaftskrise. Lange glaubte man, dass Korea davon nicht betroffen sei. Mittlerweile musste die Regierung das prognostizierte Wirtschaftswachstum nach unten korrigieren. Von nur noch 2 Prozent Wachstum ist jetzt die Rede und die Arbeitslosigkeit steigt. Offiziell liegt sie bei rund 4 Prozent, viele Menschen werden von der Statistik aber nicht erfasst. Universitätsabsolventen haben Schwierigkeiten, eine Anstellung zu bekommen. Das ist besonders bitter, wurden doch meist zehntausende Euro für die Ausbildung bezahlt.
In der Kommunikationsabteilung von Siemens Korea treffen wir Li Ra Seo. Sie ist unter Dreißig, ihr Englisch sehr gut, mit amerikanischem Akzent. Sie hat zwei Jahre im US-Staat Michigan studiert. Sie berichtet von ihrer Kindheit, die so typisch ist. Weit über 80 Prozent der Südkoreaner machen das Abitur. Die meisten studieren danach. "Die Koreaner sind bildungshungrig", sagt sie, "aber das schafft auch Probleme. Ich habe nach der Schule, die bis 16 Uhr ging, eine Privatschule besucht, das waren am Tag zusätzlich vier bis fünf Stunden lernen, und wenn ich dann nach Hause kam, musste ich noch mindestens zwei Stunden Hausarbeiten machen. Meist konnte ich erst gegen Mitternacht zu Bett gehen.“ Und wann hat sie gespielt? "In den Pausen in der Schule oder mal am Samstagnachmittag.“
Ausbildungskosten belasten Familien
Doch ohne Bildung kein Aufstieg und der Wettbewerb um die Plätze an den besten Schulen und Universitäten ist hart. Die Ausbildung muss überwiegend privat finanziert werden. Viele Eltern verschulden sich, um die Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen. Im Alltag sieht man nur wenige Kinder auf den Straßen der Metropole Seoul. Die meisten sind wahrscheinlich beim Lernen. Andererseits berichten die Unternehmen vom großen Engagement ihrer Mitarbeiter. Sie sind nicht nur gut ausgebildet, sondern auch fleißig. "Der Wille, etwas zum Erfolg zu bringen, ist in Korea einzigartig“, erzählt Josef Meilinger, der örtliche Siemens-Chef, der seit drei Jahren in Seoul lebt und, so sagt er, "in Korea gehen die Dinge schnell“. Als die deutsche Firma Solarworld in der Provinz Jeollabuk eine Produktionsstätte für Solarmodule einrichten wollte, war die Genehmigung innerhalb von drei Tagen erteilt. In Deutschland undenkbar.
Deutsch-koreanische Partnerschaft
Im Regierungskomplex in Seoul empfängt uns Wirtschaftsminister Youn Ho Lee. Über 10.000 Angestellte arbeiten in den Verwaltungsgebäuden, in denen auch einige andere Ministerien untergebracht sind. Der Minister hat sich extra Zeit für das TV-Team aus Deutschland genommen, weil er das Fernsehen der Deutschen Welle kennt und schätzt. DW-TV ist im koreanischen Kabel zu sehen – vorausgesetzt man hat das entsprechende Paket abonniert. Minister Lee hat in der Schule Deutsch gelernt, heute spricht er aber nur noch ein paar Brocken Deutsch. Die deutsch-koreanische Partnerschaft ist ihm wichtig und Südkorea ist in diesem Jahr Partnerland der Hannover Messe. Von Automatisierungstechnik bis zu Energieanwendungen zeigen die Koreaner, was sie industriell zu bieten haben. Gleichzeitig wollen sie sich als grünes Land präsentieren. Erneuerbare Energien wie Wind, Sonne und Wasser sollen massiv ausgebaut werden. Für Südkorea könnte der Ausbau alternativer Energie ein massives Konjunkturprogramm sein, erzählt der Minister.
Klotzen statt Kleckern
Rund eine Stunde Autofahrt von Seoul entfernt sehen wir, dass die Koreaner dabei nicht in kleinen Dimensionen denken. Songdo heißt die Stadt, die auf Land gebaut wird, das dem Meer abgetrotzt wurde. Auf 607 Hektar entsteht hier eine völlig neue Siedlung, die weltweit als Standard für grüne Städte gelten soll. 35 Milliarden US-Dollar werden überwiegend aus privaten Mitteln investiert: in Hochhäuser, die über 30 Prozent weniger Energie als üblich verbrauchen, in Wasseraufbereitungsanlagen, in Parks, die für Freizeitwert und Luftaustausch sorgen sollen, in Radwege und sogar in ein vom Meer gespeistes Kanalsystem, auf dem man mit kleinen Booten fahren kann. 65.000 Menschen sollen hier einmal leben und rund 300.000 in Songdo arbeiten. Umgeben von Grün, wie man es aus der Megametropole Seoul nicht kennt. Für das Jahr 2015 ist die Fertigstellung geplant, aber wer weiß, vielleicht schaffen die Koreaner auch dieses Projekt schneller als erwartet.
Autorin: Manuela Kasper-Claridge, Leiterin der Wirtschaftsredaktion von DW-TV
Redaktion: Klaus Ulrich