Packt Eure Sachen!
6. Mai 2014Mit Werken wie "Im Raume lesen wir die Zeit" bricht der Osteuropa-Experte Prof. Karl Schlögel mit traditionellen historischen Forschungsmethoden und wurde dafür mit Preisen überhäuft. Seinen Studenten an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) hat Schlögel nahegelegt, die Hörsäle und Bibliotheken zu verlassen und Orte selbst zu entdecken. Denn "nur wer das Europa von heute bereist, versteht es auch".
"Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche sich die Welt nie angeschaut haben", sagte einst Alexander von Humboldt. Dem kann Prof. Karl Schlögel nur zustimmen. Als Historiker und Publizist könnte man ihn hinter hohen Bücherbergen vermuten. "Doch die osteuropäische Geschichte erfährt und erlebt man am besten mit offenen Augen vor Ort", sagt er.
Schlögels Hauptaugenmerk liegt auf den Städten Osteuropas. "Mit dem Fall der Mauer haben sich alle Koordinaten verschoben. Was einmal unerreichbar war, ist jetzt nächste Nachbarschaft. Heute muss man dieses historisch und politisch veränderte Europa neu kennenlernen." Wo sich der Blick einst vorwiegend auf westeuropäische Städte wie Florenz, Paris, Barcelona oder Venedig richtete, wachsen heute neue kulturelle Zentren heran. Krakau, Vilnius oder Budapest seien nicht mehr, wie oft in Reiseführern beschrieben, das polnische Florenz, das zweite Rom oder das östliche Paris. Sie stehen für sich. Schlögel hat viele dieser Orte intensiv bereist. Vor jeder Reise wälzt er Bücher, Memoiren, alte Fahrpläne und Karten, mit denen er dann vor Ort durch die Stadt navigiert.
Reisen schafft ein neues Bewusstsein
Mit den Entdeckungen auf Reisen verschwindet für Schlögel allmählich auch das Denken in Ost-West-Kategorien: "Eine gemeinsame europäische Geschichte kann es ohnehin erst geben, wenn die Asymmetrie der Wahrnehmung überwunden ist. Bei osteuropäischen Städten denken wir noch immer oft an Krieg, an graue Bilder und Zerstörung. Die Cote d'Azur dagegen ist ein verzauberter Ort." Diese Bilder brechen auf und junge Leute haben daran einen großen Anteil: Backpacker und Studenten strömen heute in die östlichen Hauptstädte Europas und tragen aktiv zum Austausch und zur Verständigung bei.
Die Zahl der deutschen Studierenden beispielsweise, die im europäischen Ausland an einer Universität eingeschrieben sind, ist laut Statistischem Bundesamt in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Über 83 Prozent derjenigen Deutschen, die im Ausland studieren, bleiben in Europa. Zu den lukrativen Studienorten zählen auch vermehrt Städte in Osteuropa, wie zum Beispiel in Ungarn oder in Polen. Für das Zusammenwachsen einer jungen europäischen Generation ist das wichtig. "Mein Blick auf Osteuropa hat sich völlig verändert. Als ich 2012 als Student das erste Mal in Polen war, haben mich die Herzlichkeit und die vielen Gemeinsamkeiten überrascht. Wenn sich Jugendliche treffen, können viele alte Vorurteile aufgebrochen werden", schildert Luca, 21, Politikstudent aus Berlin, die Eindrücke seines Auslandssemesters.
Europa entdecken - aber wie?
"Reisen ist eine der intensivsten Formen des Lernens. Sich im Raum bewegen ist eine Form der Erkundung der Welt", sagt Schlögel. Aber wie entdeckt man Europa eigentlich richtig: mit einem ERASMUS-Austausch oder mit Couchsurfing? "Das Wichtige ist die grenzüberschreitende Erfahrung", meint er. Von einer Reise mit dem Eurorail-Zugticket, Freiwilligenprogrammen, Arbeitsaufenthalten, Auslandssemestern bis zu Sprachaufenthalten und Schüleraustausch oder Sommerschools haben Jugendliche eine große Bandbreite an Möglichkeiten, Zeit in anderen europäischen Ländern zu verbringen. Die Plattform Eurodesk beispielsweise bietet unzählige Informationen für Jugendliche, die innerhalb Europas aktiv werden möchten. Daneben gibt es zahlreiche Initiativen der Bundesregierung in der internationalen Bildungszusammenarbeit.
Europa erlebt zu haben, ist laut Schlögel auch die Grundlage dafür, politisch mitbestimmen zu können: Nur wer sich selbst und seine Umgebung in ein Verhältnis setzen kann, kann auch helfen soziale Probleme zu lösen und für seine und die Rechte anderer einzustehen. Nur wer nicht bequem oder gleichgültig ist, kann Europa aktiv mitgestalten. "Wer erfahren will, wie die Welt heute tickt, muss Europa auch von außen betrachten können."