Papier: geduldig, still und mächtig
22. August 2004Das Gemeindearchiv von Amsterdam vermisst sein bestes Stück: die wohl älteste Aktie der Welt. Das wertvolle Papier ist ein Inhaberanteil der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC) vom 27. September 1606. Nach Angaben des Archivs wurde es Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts aus einer Sammlung gestohlen. Das Papier soll sich in Deutschland befinden.
Die Amsterdamer berufen sich auf die Angaben des Auktionshauses von Reinhild Tschöpe in Düsseldorf. Historische Wertpapiere und Finanzdokumente kommen dort unter den Hammer, wenn sich die Historienjäger versammeln. Nun vermuten die Archivare aus dem Nachbarland, dass ihr vermisster Druck von Reinhild Tschöpe verkauft wurde.
Sammler auf Abwegen
Frau Tschöpe will den Namen des jetzigen Besitzers aber nicht verraten. Sie sieht keinen Beweis dafür, dass der ihr bekannte Sammler ein illegales Angebot ersteigert hätte. Ursprünglich habe ein Fan alter Papiere Anfang der achtziger Jahre das Dokument von einem Antikhändler in Amsterdam offiziell gekauft, sagt sie. Tschöpe sollte einst den Wert des Papiers schätzen und holte sich Rat in Amsterdam bei einem VOC-Experten. So zog sie den Verdacht auf sich. "Bis zu meinem Besuch galt eine andere VOC-Aktie von 1606 im Besitz der Amsterdamer Börse als ältestes Anteilspapier der Welt", sagt sie. Niederländer bestehen bis heute darauf, dass Tschöpe mit dem entwendeten Stück zu dem Experten gereist sei.
Hochaktuell: Alte Aktien
Um den Diebstahl einer solchen Aktie geht es auch in dem Film "Ocean's Twelve", der noch 2004 in die Kinos kommen soll. George Clooney und Komplizen stehlen darin ein VOC-Wertpapier. Der Rummel um das Leinwand-Opus könne mithelfen darauf hinzuweisen, dass auch im wirklichen Leben solch ein Dokument aus dem Gemeindearchiv Amsterdam gestohlen wurde, hofft ein Sprecher des Archivs.
Warum streiten sich Menschen um längst nicht mehr gültige Wertpapiere, die "Nonvaleurs"? Das erklärt Dagmar Schönig, Kuratorin des weltweit einzigen Museums für Historische Wertpapiere im schweizerischen Olten.
Verführung auf Papier
Die Erfindung der Aktiengesellschaft liegt 400 Jahre zurück - da fühlt sich ein Ausstellungsstück von 1930 noch fast druckfrisch an. "Das ist schon ein erhebendes Gefühl, wenn man dann eine Rockefeller-Aktie in der Hand hält und weiß, die hat er vielleicht in der Schreibtisch-Schublade aufbewahrt", schwärmt Schönig über die stillen Zeugen der Weltwirtschaft. Die hatten eigentlich nur einen Zweck: anonyme Interessenten zum Kauf zu verführen.
"Das fängt mit Handschrift auf Tierhaut an und geht bis hin zum High-Tech-Papier. Alle Kunststilrichtungen haben sich auf die Gestaltung niedergeschlagen. Im Jugendstil gibt’s wunderschöne Sachen, dann Symbolismus, Art-Déco-Stücke", beschreibt die Kuratorin. "Die Engländer sind oft sehr nüchtern, die Schweizer auch - da steht gerade mal drauf, wie die Firma heißt, dazu das Aktienkapital, der Ausgabeort."
Treibstoff der Wirtschaftsgeschichte
Ohne Aktien, sagt Dagmar Schönig, wären viele Erfindungen nicht finanziert worden. Nicht umsonst gibt es eine Aktie der Gesellschaft General Electrics im Museum - unterzeichnet ist sie von Thomas A. Edison, dem Erfinder der Glühbirne. Handel, Straßenbau und die Eisenbahn wurden vorangetrieben und auch der amerikanische Unabhängigkeitskrieg finanziert, indem Aktienkäufer Geld vorstreckten. So sei die Aktie ein Motor für die letzten vier Jahrhunderte der Wirtschaft geworden, sagt Schönig.
Zur Zeit dürften die Investoren das allerdings anders sehen. Wer sein Geld noch hat, kann es in historischen Aktien anlegen - während die Stücke vor einigen Jahren noch auf Dachböden und bei Notaren verstaubten, legen Sammler heute bis zu 650.000 Euro für den einstigen Abfall der Wirtschaftsgeschichte hin.