Paralympics-Sprinter David Behre als Lebensretter
21. September 2021Ein letztes Mal die 4x100-Meter-Staffel vor so großer Kulisse. Ein letztes Mal Paralympics - seine dritten in seiner ungewöhnlichen Karriere. Eine letzte Medaille, die hätte er sich gewünscht. David Behre geht dieses Mal aber leer aus und fühlt sich doch reich beschenkt. Denn der Weltklassesprinter konnte in Tokio Abschied nehmen und seine sportliche Karriere nach 13 Jahren auf einer großen Bühne beenden, die anderen verwehrt bleibt.
Sein größter Erfolg: die Goldmedaille mit der deutschen 4x100-Meter-Staffel bei den Paralympics in Rio de Janiero 2016 - eingereiht in paralympisches Silber (über 400 Meter in Rio) und paralympisches Bronze (200 Meter in Rio, mit der Sprint-Staffel in London 2012), Weltmeistertitel und Europarekorde.
Erst Amputation, dann Paralympics
Man muss Behres Geschichte kennen, um zu verstehen, warum er heute immer wieder in Krankenhäuser fährt, sich der Leidensgeschichten anderer annimmt, nicht müde wird, amputierten Menschen zu helfen. Es ist seine eigene Geschichte, die er mit diesen Besuchen immer wieder durchlebt und verarbeitet, erzählt der Familienvater.
14 Jahre ist es her, als David Behre an einem Bahnübergang in seiner Heimatstadt Moers vom Zug erfasst wurde. Er war mit seinem Fahrrad unterwegs, die Schranke war geöffnet. Ein unverschuldeter Unfall, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Notoperation, beide Unterschenkel amputiert, Koma. David hatte viel Glück. "Ich wollte mein altes Leben zurück. Aber ich habe schnell aufgehört, nach dem Warum zu fragen."
Noch im Krankenhaus sieht David Behre einen Fernsehbeitrag über den südafrikanischen Paraläufer Oscar Pistorius, the "fastest man on no legs". "Da wusste ich, der Rollstuhl ist nicht das Ende. Ich will laufen. Ich will nach London!", sagt Behre der DW. Vier Monate später konnte er wieder gehen, mit Prothesen. Zwei Jahre später wurde er Vizeweltmeister im Sprint über 200 Meter. Fünf Jahre später holte er sich seine erste paralympische Medaille bei den Spielen in London. Es folgten Rio und Tokio.
"Es gab viele Tiefpunkte"
Was so einfach klingt, war harte Arbeit. "Ich bin im Krankenhaus heulend zusammengebrochen", erinnert sich David an einen seiner Tiefpunkte. "Nach meinem Unfall hätte ich jemanden gebraucht, der an meinem Krankenhausbett gestanden hätte. Jemand der mir gesagt hätte, was auf mich zukommen würde. Jemand mit einem ähnlichen Schicksal."
Und das ist es, was ihn antreibt, warum er zu amputierten Menschen in die Klinik fährt und sein Schicksal mit ihnen teilt. Er zeigt ihnen, dass das Leben weitergeht. "Wenn ich reinkomme, denken viele: da ist wieder jemand, der mir erzählen will, was ich machen soll. Die sehen ja nicht, dass ich amputiert bin. Wenn ich ihnen dann meine Prothesen zeige, weinen viele. Das sind Freudentränen, weil sie wieder Hoffnung haben."
"Lebensretter" David Behre
David erreicht die Patienten oft mehr als manche Ärzte, weil er ein Betroffener ist und weil er weiß, wie sie sich fühlen. Er gibt emotionalen Halt, aber auch praktische Tipps für Prothesenträger. "So ein Gespräch ist mehr wert als irgendeine Medaille in irgendeinem Stadion", sagt der 35-Jährige.
Mit manchen Patienten ist David noch heute befreundet - zum Beispiel mit Ami Inthra. Der Mutter wurden nach einer Blutvergiftung - der Folge einer Grippe - beide Hände und beide Füße amputiert. Drei Jahre ist das her. "Ich brauchte lange, um das zu verstehen und mich wieder lieben zu lernen. Ich glaube nicht, dass ich das ohne David geschafft hätte", erzählt die 47-Jährige der DW. "Für mich ist David ein Lebensretter." Ami Inthra treibt heute sogar wieder Sport: Kickboxen mit Hand- und Fußprothesen. Etwas, was sie sich vorher nicht vorstellen konnte. Behre hat es ihr vorgelebt.
Sport als Lebenssinn
Nicht jeder ist für den Leistungssport gemacht. Darum geht es David auch nicht. Sondern darum, jeden amputierten Menschen, den er im Krankenhaus besucht, zum Sport zu motivieren. "Das hilft im Alltag, denn Prothesenträger benötigen doppelt so viel Kraft. Und Sport gibt den Betroffenen wieder einen Lebenssinn. Ich weiß, wovon ich rede."
David hatte Talent, Ehrgeiz und mit dem TSV Bayer 04 Leverkusen den bestmöglichen Leistungsstützpunkt, um nach seinem tragischen Unfall so eine sportliche Karriere hinzulegen. Schon nach den Paralympics in Rio 2016 war für ihn klar, die Spiele in Tokio werden die letzten sein. "Die vergangenen Jahre waren eine Plackerei. Jetzt bin ich froh und freue mich auf ein anderes Leben", sagt er.
In diesem neuen Leben nach dem Leistungssport steht seine Familie mit seiner kleinen Tochter ganz oben, gefolgt von seinem Beruf, der Arbeit in einer Firma, die sich auf Prothesen spezialisiert hat. Daneben steht seine Berufung, anderen zu helfen. Und wer weiß, vielleicht trifft David Behre bei seinen Besuchen in den Krankenhäusern ja auch einen Betroffenen, der - so wie er - das Zeug zum paralympischen Athleten hat.