Das Zusammenleben nach dem Terror
10. Januar 2015Serge kommt jeden Sonnabend auf den Marche de Barbès, weil es dort billiger ist und weil ihm das Gewühl der verschiedenen Nationalitäten gefällt. Als älterer Pariser mit Schal und blauem Jackett ist er nicht unbedingt typisch für die Gegend, aber hier mischen sich alle: Zuwanderer und Alteingesessen, junge Schwarze im Rapper Outfit, alte Frauen mit dunklen Kopftüchern und Mänteln, junge Mütter mit Kinderwagen und Markthändler, die ihre Waren anpreisen. "Ich glaube nicht, dass sich die Stimmung im Quartier verändern wird", sagt Serge. "Das heißt, ich hoffe es nicht. Es gibt eigentlich keine Probleme zwischen den Menschen hier." Man habe ja gehört, wie der Imam der Moschee von Paris die Gewalttaten verurteilt habe. Das sei doch die Basis für das Zusammenleben.
Matilde schiebt den Kinderwagen mit ihrem kleinen Sohn durch das Gedränge. Auch sie lebt in Barbès und ist nicht ganz so optimistisch, was die Entwicklung angeht. "Man spürt schon Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften, das ist gefährlich. Vielleicht lernen sie ja jetzt aus dem, was geschehen ist, dass man sich gegenseitig respektieren muss", meint Matilde.
In Fatima Mazids Gesicht sind die Spuren eines langen Lebens zu lesen. "Man hat doch nicht das Recht so etwas zu tun", klagt sie die Terroristen an. "Das sind doch keine Muslime, das sind Schurken". Andererseits hat sie sogar etwas Mitleid mit den Tätern, deren Leichen am Tag nach dem blutigen Finale in Paris gemeinsam mit ihren 17 Opfern in der Gerichtsmedizin liegen. "Das sind doch unglückliche junge Leute, aber trotzdem darf man nicht töten".
Die Muslime müssen sagen, wofür sie stehen
Françoise wohnt drei Metro Stationen entfernt und kommt für den billigen Wochenendeinkauf nach Barbès. Sie glaubt nicht, dass sich durch die Attentate das soziale Klima in den gemischten Vierteln von Paris verschlechtern wird. Und das Gleiche gelte für Frankreich insgesamt. Allerdings müssten die Muslime jetzt klar machen, wo sie stehen. Das haben sie durchaus getan: Alle offiziellen Vertreter des Islam haben sich von den Bluttaten auf jede erdenkliche Weise distanziert. Aber ob das genügen wird? Auch Françoise räumt ein, dass eine gewisse Unruhe herrscht, manche Angst haben und viele Leute weitere Anschläge befürchten.
"Wir werden nicht anfangen, unseren Nachbarn zu misstrauen, aber wir werden wachsamer sein", sagt der Besitzer des farbenfrohen Ladens für nahöstliche Festtagskleidung, "Au bonnes affaires du Caftan". "Ich kann keine Panik unter den Leuten hier erkennen. Und es gibt auch keinen Grund dafür." Man werde aus dieser Krise gestärkt hervorgehen: "In Frankreich denkt man anders als in anderen Ländern. Für uns ist die Meinungsfreiheit besonders wichtig und wir sind bereit, sie zu verteidigen".
An der Straßenecke steht eine Gruppe jüngerer Männer, die die Dinge anders sehen: "Wir sind nicht einverstanden mit den Verbrechen", sagen sie, "aber wir sind nicht Charlie", in Anspielung auf die allgegenwärtigen Solidaritätsplakate für die ermordeten Mitarbeiter der Satirezeitschrift.
Das Leben wird weitergehen
Von Barbès sind es mit dem Auto rund 20 Minuten in eine andere Welt. In Passy, dem teuren Wohnviertel im 16. Pariser Arrondissement, heißt es überall "Je suis Charlie", "Ich bin Charlie" - in den Schaufenstern der schicken Boutiquen und der teuren Friseure. Der Kiosk an der Place Costa Rica hat doppelt so viele Zeitungen verkauft wie normal. "Das alles ist doch grauenhaft", sagt der Besitzer, ein älterer Pariser mit Schal und Karomütze. Leider habe er ein krankes Bein, sonst würde er auch zu der großen Demonstration am Sonntag gehen. "Die Leute haben Angst und sind entsetzt", aber nach einiger Zeit werde das vorbeigehen: "Das Leben geht weiter."
Jean Philippe und seine Frau im Café gegenüber glauben, das Drama werde François Hollande nützen. Er habe alles richtig gemacht bisher in seiner Rolle als Präsident, um das Land zu beruhigen und an die Einigkeit zu appellieren. Dabei ist Pensionär Jean Philippe absolut gegen Hollande und die Sozialisten. Das Wichtigste sei jetzt, den Geheimdienst und die anderen Sicherheitskräfte zu verstärken. "Da ist doch einiges schief gelaufen. Sie hatten die Kerle ja unter Beobachtung. Das waren vorbestrafte Verbrecher. Aber sie brauchen mehr Leute, um solche Typen noch besser zu überwachen." Die Probleme in den heruntergekommenen Vorstädten jedoch hält Jean Philippe für quasi unlösbar: "Die Jungen haben keine Arbeit, die Polizei traut sich da nicht hin und die Zustände in den Gefängnissen sind skandalös." Der Pensionär kennt die Ursachen für die soziale Misere, aus der der Extremismus entsteht, sieht aber keine Abhilfe.
Die jüdische Gemeinde ist beunruhigt
Vor der Tür des Cafés kommt Barbara Bessermann mit Familie und Freunden vorbei. "Wir hier sind privilegiert", weist sie auf ihre kleine Gruppe. Aber es gebe Spannungen im Land und große Probleme in den Vorstädten, die zur Radikalisierung führten. Sie selbst bekenne aus dem Grunde ihres Herzens zur französischen Republik und ihrer Demokratie, sagt die junge jüdische Juristin. Allerdings sei sie nicht die einzige aus ihrer Glaubensgemeinschaft, die sich nicht mehr richtig wohlfühle. "Aber wohin gehen? Ich will nicht nach Israel. Und Deutschland - das könnte mein polnischer Großvater nicht verstehen."
Am Tag nach den blutigsten und dramatischsten Ereignissen, die Paris seit Jahrzehnten erlebt hat, denken viele über ihre Stellung in der französischen Gesellschaft nach. Wie sicher fühlt man sich nach dem Geschehenen noch, wie steht man zu diesem Staat und seinen Werten.
So viele leidenschaftlichen Bekenntnisse zur Republik und ihren demokratischen Idealen waren lange nicht zu hören. Man trifft auch niemanden in dieser Stadt, der sich von den Mordanschlägen einschüchtern lassen will. Und wenn alle, die ankündigen, dass zum großen Gedenkmarsch am Sonntag gehen, auch tatsächlich dort mitlaufen, könnte es ein eindrucksvolles Bekenntnis zur Gemeinsamkeit werden.