Peking will Sicherheitsgesetz für Hongkong
9. Juni 2020Vor einem Jahr waren am 9. Juni 2019 eine Million Hongkonger auf die Straße gegangen, um gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz zu protestieren. Während die Hongkonger Regierung dieses Gesetzesvorhaben zurückgezogen hat, hat Peking viel weitreichendere Fakten für Hongkong geschaffen.
Ende Mai gab der Nationale Volkskongress grünes Licht für ein neues nationales Sicherheitsgesetz, das in das Hongkonger Grundgesetz aufgenommen werden soll. Chinakritische Äußerungen und Proteste könnten dann als Verbrechen wie "Untergrabung der Staatsgewalt" verfolgt werden, so wie es auf dem Festland üblich ist.
Peking sieht Handlungsbedarf
Die Proteste des vergangenen Jahres haben Peking offenbar dazu bewegt, die Lage in Hongkong stärker unter Kontrolle zu bringen. Auch der Wahlsieg der Kandidaten der chinakritischen Kräfte bei den Hongkonger Lokalwahlen am 24. November, wo sie die Mehrheit in 17 von 18 Distrikträten gewannen, dürfte eine Rolle gespielt haben.
In diesem Zusammenhang ist auch die Neubesetzung der Leitung des Pekinger Verbindungsbüros in Hongkong zu sehen. Xi Jinping hielt zwar an der angeschlagenen Regierungschefin Carrie Lam fest. Er setzte aber zur Überraschung auch von Insidern den 65-jährigen Luo Huining auf den de facto wichtigsten Posten in Hongkong. Luo, der von "außen" nach Hongkong kommt, hat sich beim "Aufräumen" in der von Korruption geplagten Provinz Shanxi 2016 verdient gemacht. Zweifellos erwartet Xi von ihm Fortschritte bei der "Zähmung" der unberechenbaren Verhältnisse in Hongkong. Die Grundlage dafür bietet das neue Sicherheitsgesetz.
Widerstand gegen Auslieferungsgesetz
Begonnen hatten die Proteste bereits Mitte März 2019. Eine kleine Gruppe von Demokratieaktivistinnen hatte die Lobby der Hongkonger Stadtverwaltung im Distrikt Central besetzt. "Carrie Lam hat Hongkong verraten!", "Stoppt das Auslieferungsgesetz", skandierten sie.
Es ging vorderhand um eine umstrittene Änderung des Auslieferungsgesetzes von Hongkong. Aber wie schon 2014 bei den Regenschirmprotesten und der Bewegung "Occupy Central" ging es im Kern darum, wie stark die Pekinger Führung in die Angelegenheiten von Hongkong eingreifen darf und soll. Und um die Frage: Wer soll Hongkongs Zukunft gestalten, die Wähler in Hongkong oder das autoritäre Regime in Peking?
Im Jahr 2047 läuft das für 50 Jahre geltende Übergangsprinzip "Ein Land, zwei Systeme" aus. "Was dann?", fragen sich vor allem die jüngeren Bewohner.
Im Februar 2019 hatte die Hongkonger Regierungschefin ("Chief Executive") Carrie Lam den Entwurf für ein geändertes Auslieferungsgesetz ins Parlament eingebracht. Es hätte erstmals ermöglicht, dass Tatverdächtige in Hongkong auch an die Strafverfolgungsbehörden des Festlands überstellt werden dürfen. Für viele Hongkonger absolut inakzeptabel, denn die Erinnerung an "verschwundene" Buchhändler und Geschäftsleute, die teilweise später im chinesischen Staatsfernsehen gestellte "Geständnisse" abgaben, war noch frisch.
Protest im Parlament und auf der Straße
Am 3. April fand die erste Lesung im Stadtparlament (Legco) statt. Dort machten die pekingkritischen Abgeordneten ihrem Unmut über den "Ausverkauf" an Peking Luft. Elf Mal musste der Regierungsvertreter die Vorstellung des Gesetzesvorhabens nach massiven Zwischenrufen und Einsprüchen unterbrechen.
Auch auf der Straße äußerten die Bürger ihren Protest gegen das Gesetzesvorhaben. Am 9. Juni, einem Sonntag, demonstrierten nach Angaben der Aktivisten mehr als eine Million Menschen auf der Straße. Der Grund: Am 12. Juni sollte im Legco die zweite Lesung stattfinden. Sieben Stunden lang marschierte der kilometerlange Zug friedlich durch das Regierungsviertel.
Doch die Demonstration endete mit Gewalt zwischen Randalierern und Polizisten. Die Szenen wiederholen sich am 12. Juni, als Demonstranten die Zufahrt zum Parlamentsgebäude blockieren, um so die zweite Lesung des Auslieferungsgesetzes zu verhindern. Am späten Abend versammelten sich rund 2000 überwiegend junge Demonstranten zu einer nächtlichen Mahnwache vor dem Parlament. Die zweite Lesung wurde verschoben.
Carrie Lam gibt nach - etwas
Der öffentliche Druck auf Carrie Lam wuchs, so dass sie am 15. Juni einen Rückzieher machen musste. "Die Regierung hat entschieden, das Gesetzesvorhaben auszusetzen", erklärte sie. Aber damit war es noch nicht endgültig vom Tisch. Wieder kommt es zu einer Massendemonstration, zwei Millionen laut Organisatoren, 330.000 laut Polizei. Am 1. Juli, dem Jahrestag der Rückgabe Hongkongs an China, gehen mehr als eine halbe Million Menschen auf die Straßen. Tausende Protestler versammeln sich, um gegen die jährliche Fahnenzeremonie zu demonstrieren. Andere versuchen, das Parlament zu stürmen. Sie werfen Fensterscheiben des Regierungsgebäudes ein und versuchen, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen.
Eskalierende Konfrontation
In der zweiten Jahreshälfte wurden die Demonstrationen dezentraler, häufiger und "kreativer". Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen, dem wichtigsten Drehkreuz in Asien, musste mehrmals eingestellt werden, da die Zufahrtstraßen und das Terminal blockiert wurden.
Die Polizei ging jetzt härter gegen die Demonstranten vor, Tränengas und Wasserwerfer kamen zum Einsatz, auch Gummigeschosse. Um die Randalierer zu identifizieren, erließ die Regierung in Hongkong ein Vermummungsverbot. Zeitweise wurde spekuliert, ob die Zentralregierung die in Hongkong stationierten Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee einsetzen wird, um die Ordnung wiederherzustellen. Dies geschah jedoch nicht.
Die Protestbewegung forderte die Aufklärung der Polizeieinsätze, bei denen aus ihrer Sicht unverhältnismäßige Gewalt eingesetzt wurde. Weitere Forderung: Carrie Lam, die als regierungsunfähig bezeichnet wird, soll zurücktreten. Und wie schon 2015 wurden allgemeine und freie Wahlen gefordert.
Am 17. November begann eine 12-tägige Besetzung des Geländes der Polytechnischen Universität Hongkongs. Die Polizei vermutete viele gewaltbereite Randalierer, die sich auf dem Campus verschanzt hatten, und belagerte den Campus, um die Moral der Besatzer zu zermürben.
Randalierer bewarfen die Polizei mit Benzinbomben und steckten Gebäudeteile in Brand. Die Polizei fuhr mit gepanzerten Fahrzeugen vor und schoss mit Tränengas. Nachdem die Besatzer aufgegeben hatten, stellte die Polizei mehr als 3800 Benzinbomben sowie 500 Flaschen giftige Chemikalien sicher. 1377 Personen wurden festgenommen, die wenigsten von ihnen Studenten der Polytechnischen Universität. Von 318 Minderjährige wurden die Personalien erfasst, die dann nach Hause gehen durften.
Entwicklung 2020 - und weiter?
Die bürgerkriegsähnliche Eskalation des Konflikts zwischen Demokratieaktivisten und Sicherheitskräften führte nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, zu einer Stärkung des prochinesischen Lagers. Der Ausbruch des neuartigen Coronavirus auf dem Festland und die dadurch hervorgerufene Sorge und Verunsicherung haben die Protestbewegung in Hongkong vorübergehend in den Hintergrund treten lassen. Aber die Proteste gegen das neue Sicherheitsgesetz und die Missachtung des Versammlungsverbots am 4. Juni, dem Gedenktag zum Tiananmen-Massaker 1989, haben die angespannte Lage in Hongkong erneut deutlich gemacht.
Martin Lee, ein Veteran der Demokratiebewegung, der an der Ausarbeitung des Basic Law, des Hongkonger Grundgesetzes, mitgewirkt hat, ist teilweise pessimistisch, teilweise optimistisch, wenn er über die Zukunft Hongkongs spricht. Er glaube, dass Peking auch die bislang unabhängigen Gerichte Hongkongs unter Kontrolle bringen werde, so wie es jetzt bereits die Exekutive und Legislative kontrolliere, sagt Lee im DW-Interview. Andererseits sei die demokratische Jugend Hongkongs biologisch gegenüber der Führung um Xi Jinping im Vorteil. Sie solle sich auf einen langen, aber friedlichen Kampf gegen die Versuche Pekings einstellen, sich Hongkong gänzlich einzuverleiben.