Phagen helfen, wo Antibiotika versagen
20. November 2019Tanja Diederen aus der Nähe von Maastricht in den Niederlanden leidet seit 30 Jahren an Hidradenitis suppurativa, einer chronischen Hautkrankheit, bei der sich unter Schmerzen die Haarwurzeln entzünden – häufig an intimen Stellen wie Achseln und Brust.
Im August 2019 traf die heute 50-jährige eine radikale Entscheidung: Sie setzte die immer schwächer wirkenden Antibiotika ab und reiste für zwei Wochen nach Georgien, um sich dort einer Behandlung mit Bakteriophagen zu unterziehen.
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3900 Euro aus eigener Tasche
Eine solche Phagentherapie ist in fast allen westeuropäischen Ländern noch nicht zugelassen. 3900 Euro zahlte sie dafür aus eigener Tasche, in der Hoffnung, dass die unkonventionelle Therapie ihr helfen würde.
Bakteriophagen (oder kurz: Phagen) sind Viren, die gegen die Vermehrung ihrer Wirtsbakterien kämpfen. Bei einer Therapie mit Bakteriophagen wird eine einzelne, isolierte Art von Phagen oral eingenommen. Diese hängen sich an ihre bakteriellen Gegenspieler im Körper des Patienten, um zu überleben.
Der Phage polt dabei die Bakterienzelle so um, dass sie von nun an weitere Phagen produziert, sich immer mehr mit Phagen füllt und schlussendlich platzt. Die freigesetzten Phagen hängen sich an andere Bakterien, bis alle Bakterien vernichtet sind.
Reise ins Ungewisse
"Es schmeckt ein bisschen nach Pilzen", bemerkt Tanja Diederen, als sie ihre morgendliche Phagendosis nimmt. "Als ich nach Georgien gegangen bin, war ich zuerst sehr nervös und aufgeregt, vor allem aber enttäuscht über die Behandlung hier in Holland", erzählt sie.
Nachdem Antibiotika bei ihr nicht mehr wirkten, hatte ihr Arzt vorgeschlagen, Biopharmazeutika, also gentechnisch hergestellte Medikamente, zu nehmen. Von Bakteriophagen hatte er noch nie gehört.
Diederen entschied sich, stattdessen auf eigene Faust nach Behandlungsmöglichkeiten mit Bakteriophagen zu suchen, von denen sie in einer Fernsehsendung gehört hatte.
Arzt hatte von Phagen noch nie gehört
Dabei stieß sie auf das Georgi-Eliava-Institut in Georgien, das seit 1923 zu Bakteriophagen forscht – bereits wenige Jahre nach deren Entdeckung. Georgien entwickelte sich zum globalen Zentrum der Phagentherapie.
Im Kalten Krieg waren dort und in der ganzen Sowjetunion Antibiotika nur schwierig zu bekommen. Die Behandlung mit Phagen war die beste Möglichkeit, Infektionskrankheiten zu kurieren. Das Eliava-Institut besitzt heute eine der weltweit größten therapeutischen Sammlungen von Bakteriophagen.
Tanja Diederen blieb zwei Wochen in Behandlung, danach reiste sie mit einem großen Koffer voller Phagen-Döschen zurück in die Niederlande. Seit sie täglich zwei verschiedene Phagen nimmt und eine Creme aufstreicht, fühlt sie sich besser.
Sie hat wieder mehr Energie und die kleinen Entzündungen an Brust und Achselhöhlen sind zurückgegangen. Nur die großen Entzündungen kommen und gehen weiterhin, aber auch nicht mehr so stark wie früher.
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"Es fühlt sich für mich nicht illegal an"
Alle drei Monate fährt Diederen ins 15 Kilometer entfernte Belgien, um für 500 Euro eine neue Ration Bakteriophagen aus Georgien abzuholen – die Krankenkasse bezahlt nichts. Belgien ist das einzige westeuropäische Land, in dem Phagen zugelassen sind. In den Niederlanden wie in allen anderen Ländern können sie nur in einzelnen Fällen angewendet werden, um Leben zu retten oder starke Schmerzen zu lindern.
Der behandelnde Arzt trägt dabei die alleinige Verantwortung. "Es fühlt sich für mich nicht illegal an", sagt Tanja Diederen. "Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass diese Medizin vielen Leuten helfen wird."
Wie Antibiotika können auch Bakteriophagen zu Resistenzen bei den Bakterien führen. Ihr großer Vorteil ist jedoch, dass sie den Bakterien immer einen Schritt voraus sind und die Resistenzen überwinden können. Außerdem richten sie sich immer gezielt gegen eine spezifische Bakterienart und lassen damit nützliche Bakterien zum Beispiel im Darm unbeschädigt.
Vor einer Phagenbehandlung muss daher immer bestimmt werden, welche Bakterien die Krankheit konkret auslösen. Die Phagen werden dann individuell für jeden Patienten hergestellt – häufig in Georgien.
In Belgien sind Bakteriophagen erlaubt
Eine solch individuelle Medikamentation erfüllt in keinem westeuropäischen Land die geltenden Vorschriften für Arzneimittel. Zu groß wäre der Aufwand, jede einzelne Phagenrezeptur von den Behörden genehmigen zu lassen.
Anders in Belgien: Hier kann dieser Prozess seit vergangenem Jahr legal umgangen werden, indem vom wissenschaftlichen Gesundheitsinstitut in Zusammenarbeit mit Arzt, Patienten, Hersteller, Pharmazeut und belgischem Bundesamt für Arzneimittel ein Zertifikat für die benötigten Phagen-Inhaltsstoffe ausgestellt wird. Apotheker dürfen sie danach unter Berücksichtigung bestimmter Richtlinien zur Herstellung von Bakteriophagen verwenden.
"Wir haben den bestehenden gesetzlichen Rahmen genutzt und die Bakteriophagen eingefügt", sagt Dr. Jean-Paul Pirnay, der am Königin-Astrid-Militärkrankenhaus in Brüssel zu Bakteriophagen forscht. Rund 30 Patienten wurden hier bereits mit Phagen therapiert. Derzeit ist das Militärkrankenhaus noch der einzige Ort in Belgien, an dem Bakteriophagen hergestellt werden.
Sinnvolle Ergänzung zu Antibiotika
"Wir brauchen Pharmaunternehmen, die die Phagen herstellen", sagt Pirnay. "Ein Krankenhaus kann nicht alle Phagen für eine größer werdende Menge von Patienten produzieren." Doch für eine industrielle Herstellung von Phagen bräuchte es eine eindeutigere Gesetzeslage, und auch die Forschung ist noch nicht so weit. "Ich glaube, dass Phagen Antibiotika nicht ersetzen werden. Beide werden zusammen genutzt werden, um Antibiotika wirksamer zu machen."
Tanja Diederen möchte ihre Behandlung zukünftig in Brüssel fortsetzen. Die Kommunikation mit den georgischen Ärzten war für sie schwierig, sie brauchte immer einen Übersetzer. "Ich hoffe wirklich, dass Phagen bald in Europa erlaubt werden. Nach Georgien zu gehen, ist ziemlich schwierig und teuer."
Deutschland und die Niederlande prüfen derzeit in Pilotstudien, ob eine individuelle Verschreibung von Bakteriophagen auch bei ihnen möglich wäre. Und Frankreich hat bereits belgische Phagen importiert und ihrer Verwendung zugestimmt.