Phantomschmerz: Wie tut etwas weh, was nicht existiert?
7. März 2024Die Frage "Wo tut es weh?" ist für Thomas Frey nicht einfach zu beantworten - denn sein schmerzendes Bein existiert nicht mehr.
Vor über 30 Jahren verlor er es bei einem schweren Unfall. Unmittelbar danach spürte er jedoch starke Schmerzen im verlorenen Bein. Mit dieser bizarren Erfahrung ist Thomas Frey nicht allein, im Gegenteil: Über 70 Prozent aller Betroffenen spüren nach einer Amputation Phantomschmerzen.
Neben Armen und Beinen können auch andere Körperteile wie eine entfernte Brust oder ein nicht mehr vorhandener Zahn betroffen sein. Meist treten die Schmerzen unmittelbar nach dem Verlust auf, manchmal aber auch erst Monate später. Wie bei Thomas Frey sind sie oft chronisch und belasten die Betroffenen ihr Leben lang.
Er vergleicht die Schmerzen mit einer Migräne: "Das sind Impulse, die ein paar Sekunden anhalten. Dann ist mal wieder fünf Minuten Ruhe. Das kann über Stunden gehen." Oft sind die Schmerzen unerträglich und die Einschränkungen im Alltag massiv.
"Mit Phantomschmerzen kann ich mich nicht mit Freunden abends zum Essen verabreden, ich kann auch kein Meeting mitmachen," sagt Frey. Für einen Außenstehenden ist diese Belastung schwer zu begreifen, oft traf Frey auf Unverständnis. "Ich weiß noch die Reaktion meines Vaters, der meinte: 'Stell dich nicht so an'", erinnert sich Frey.
Die Ursache der Phantomschmerzen ist komplex
In der Literatur taucht der Begriff Phantomschmerz schon im 16. Jahrhundert auf, doch die Suche nach seiner Erklärung dauert an. Prof. Dr. Thomas Weiß ist Physiologe und hat sich intensiv mit den Ursachen der Phantomschmerzen beschäftigt. "Eine Amputation verändert das gesamte Nervensystem", beschreibt Weiß den heutigen Wissensstand.
Der Schmerz zählt deshalb zu den neurologischen Erkrankungen. Zentral war die Entdeckung, dass sich die Nervenbahnen nicht nur am Stumpf, sondern auch im Rückenmark und im Gehirn verändern.
Besonders auffällig sind Veränderungen im Hirnbereich, den Weiß als primären somatosensorischen Kortex bezeichnet. Dieser Ort nimmt Reize am Körper wie Berührung, Druck oder Temperatur wahr und heißt deshalb auch Tastrinde.
Jedes Körperteil ist in der Tastrinde einem eigenen Bereich zugeordnet. Alle Bereiche der Tastrinde zusammen bilden so eine Art Landkarte des Körpers.
Wenn ein Körperteil plötzlich fehlt, empfängt der ihm zugehörige Hirnbereich zunächst keine Signale mehr. "Dann sind diese Regionen, wenn man so will, wie eine Art arbeitslos", beschreibt Weiß. Doch das bleibt nicht so.
Die Nachbarbereiche übernehmen den verwaisten Bereich und leiten ihre Impulse dort hin. "Man sagt dazu funktionelle Reorganisation, also eine funktionelle Umstrukturierung", erklärt Weiß. Ein lernfähiges Gehirn, in dem sich das neuronale Netz rasch verändern kann, scheint hier ausnahmsweise nicht von Vorteil zu sein: "Personen, die ein besonders lernfähiges Gehirn haben, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie unter Phantomschmerzen leiden", so Weiß.
Trotz bereits vieler gesammelter Erkenntnisse stellt der Phantomschmerz die Forschung immer wieder vor Rätsel: "Die neueste Entwicklung ist, dass die Erklärung durch den primären somatosensorischen Kortex allein nicht ausreicht", sagt Weiß. Deshalb stehen nun andere Bereiche im Nervensystem und auch die Gene im Fokus.
Die Suche nach der Ursache bleibt komplex, vor allem, weil die Schmerzen bei jedem Betroffenen unterschiedlich ausgeprägt sind: "Da finden sie welche, die haben überhaupt keinen Phantomschmerz und sie finden welche, da sind die Schmerzen so stark, dass die darüber nachdenken sich umzubringen", erklärt Weiß.
Wie sich Phantomschmerzen behandeln lassen
Um Phantomschmerzen zu lindern, sind häufig starke Schmerzmedikamente im Einsatz. Doch durch die starken Nebenwirkungen stellten sie für Betroffene wie Frey eine weitere Belastung dar. Die Erkenntnisse über den neurologischen Ursprung der Phantomschmerzen konnten die Behandlung jedoch erweitern. Besonderen Erfolg verzeichnet die Spiegeltherapie.
Auch Frey probierte die neue Methode. In der Therapie bewegte er sein noch vorhandenes Bein vor dem Spiegel. "In dem Moment, wo ich das mache, habe ich das Gefühl, dass Energie zu fließen beginnt", beschreibt Frey seine Erfahrung.
Die Reflexion im Spiegel trickst das Gehirn aus. Dort wird die Bewegung mit dem amputierten Bein verknüpft. Die fehlgebildeten und schmerzverursachenden Strukturen in der Tastrinde bilden sich deshalb teilweise zurück, der Phantomschmerz nimmt ab.
Das klappt sogar, wenn mal kein Spiegel vorhanden ist: Auch speziell entwickelte Apps und Virtual Reality Erlebnisse können diesen Effekt herbeiführen. Dank der Spiegeltherapie konnte Thomas Frey die starken Schmerzmedikamente absetzen.
Für ihn ist es aber auch entscheidend, mit welcher Einstellung er dem Schmerz begegnet: "Das Problem bei chronischen Schmerzpatienten ist, dass sie sicherlich zu Anfang dem Schmerz den Krieg erklären und ihn zu einem absoluten Feind machen", meint Frey. Doch diese Einstellung habe er durch das Leben mit Phantomschmerzen geändert. Um der Beschwerden Herr zu werden, musste er sie zunächst als Teil seines Lebens akzeptieren: "Ich muss den Schmerz zum Freund machen", erkennt er heute.