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GesellschaftEuropa

Deutschlands Mutter Courage

Matthias Buth
30. Dezember 2022

Im Alter von 100 Jahren ist die deutsche Sintiza Philomena Franz gestorben. Verfolgt vom Nazi-Regime, überlebte sie das KZ Auschwitz. Nach 1945 engagierte sie sich als Zeitzeugin und setzte sich für Versöhnung ein.

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Philomena Franz
Philomena Franz (1922-2022)Bild: Harald Bauer

Am 28. Dezember 2022 starb Philomena Franz. Einhundert Jahre alt zu werden ist fast schon ein Wunder. Die Konzentrationslager von Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück zu überleben umso mehr. Philomena Franz wurde 1922 in Biberach an der Riß geboren, ihre Mutter eine Jüdin, ihr Vater ein Sinto aus Tours, dem nahen Frankreich. Ihre Familie wurde von unseren Vorfahren rassistisch verfolgt als "die Anderen". Dabei sind Sinti vor 600 Jahren nach Europa gekommen und so auch nach Deutschland, so wie vor 250 Jahren Roma zu uns kamen. Sie sind Deutsche, aber die nationalsozialistischen Deutschen grenzten sie aus, verfolgten und ermordeten sie. Und viele Bürger in der Bundesrepublik stigmatisieren sie immer noch.

Aus der Familie von Philomena Franz überlebten viele nicht. Wie etwa sechs Millionen Juden und 500.000 Sinti und Roma. Sie aber schaffte es, zu widerstehen mit allem, wozu sie fähig war: durch den Glauben an Gott und durch das Lied. Denn sie sang im KZ, zur Ermutigung für sich und andere. Ihr ausgebildeter Sopran, ihr Lied hat gerettet, als sie der Welt abhanden gekommen war. 

"Wenn wir hassen, verlieren wir"

Philomena Franz, die "Frau Europas" 2001, ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Verdienstorden von Nordrhein-Westfalen sowie Ehrenbürgerin der Kreisstadt Bergisch Gladbach, las viele Jahrzehnte aus ihrem eindrucksvollen Buch "Zwischen Liebe und Hass". Im In- und Ausland, an Schulen und Universitäten verbreitete sie ihre Lebensbotschaft: "Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich."

Ein Dreiklang bestimmte ihr Selbstverständnis: Sintiza, Gott, Deutschland. Und so hat sie uns allen ein Licht im dunklen Tunnel von Auschwitz entzündet. Und so können wir eher dieses Grauen annehmen, ohne am Deutschsein zu verzweifeln. Uns allen ist auf der Gedächtnishaut der Holocaust eintätowiert. Wir wissen, was Genozid ist und kennen Celans Vers "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland". Daraus erwächst unsere Verantwortung. Dieser stellten sich die Autorinnen und Autoren der Anthologie "Himmel über Philomena / Auschwitz sieht uns an" (Pop Verlag, Ludwigsburg 2022), die anlässlich des vom Philomena-Franz-Forum e.V. ausgerichteten Symposiums am 21. Juli 2022 in der Stadt Rösrath erschienen ist.

Es waren Soldaten der Roten Armee, die vor bald 78 Jahren das SS-Vernichtungslager Auschwitz befreiten. Ihnen offenbarte sich am 27. Januar 1945 ein unvorstellbares Grauen. Dieser Tag ist erst seit 1996 nationaler Gedenktag in Deutschland. Nicht wenige wollen heute den Völkermord an Juden, Sinti und Roma wegschwadronieren, wollen diese Menschen nicht in der Mitte unseres Staates haben.

Schon bald, am Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2023, sprechen die Toten wieder zu uns, die aufgegangen sind im Rauch der Verbrennungsöfen von Ausschwitz und in den anderen Vernichtungslagern in Europa. "Die Erinnerung an Auschwitz ist Teil unserer nationalen Identität", sagen Politiker oft. Aber was heißt das in den Städten Deutschlands? Philomena Franz war als Sintiza und Jüdin an dem Ort, der das Schreckenswort Deutschlands ist. Identität zu erreichen, gelingt nur auf den Gleisen der Erinnerung. Nur sie führt zu uns als Staat und Nation - und wir können beiden Begriffen nicht entrinnen und diese nicht nach Europa entsorgen.

Was bleibt?

Und so müssen wir uns auch unserem Versagen bei der strafrechtlichen Ahndung der KZ-Morde stellen: Über 20.000 Personen der SS waren in den Konzentrationslagern als Wachleute eingesetzt. Und es gab in Europa mit allen Außenlagern über 1600 KZs. Eine unvorstellbare Anzahl.

Seit den Nürnberger Prozessen vor Gründung der Bundesrepublik in den Jahren 1946 bis 1949, als die "Hauptkriegsverbrecher" vor Gericht standen, prägte uns Deutsche die Schlussstrichmentalität.

Und was bleibt nun nach allem? Verzweiflung und Abscheu? Nein. Deutschland ist ein Bürgerland, eines, das auch Geist, Kraft und Mut hat. Staatsbürger sind wir alle. Die Millionen von Auschwitz bleiben uns nahe, wie alle, die in Rauch aufgegangen sind und die zu uns sprechen wollen. Hören wir ihnen endlich zu!

Philomena Franz bleibt als große Frau, als Sintiza, Jüdin und Deutsche inmitten unserer Suche nach Identität als Volk und Staat. Ihr Leben ist eine Handreichung, ihr Leben war ein Lied, mit dem sie die Dämonen in ein paar Strophen für Augenblicke vertreiben konnte. Wann wird eine Schule, eine Universität oder ein ehemaliger Adolf-Hitler-Platz nach ihr benannt? Ohne ein Fortwirken des Lebenswerks von Philomena Franz wäre Deutschland ein Irrtum.

 

Matthias Buth (geb. 1951) ist ein deutscher Jurist, Dichter und Schriftsteller. 2021 gründete er das "Philomena-Franz-Forum" zusammen mit der Namensgeberin. Buth schreibt seit 2016 politische Feuilletons für deutschsprachige Medien in Europa.

Philomena Franz: "Ich kann nicht hassen!"