Polen erwartet viele Flüchtlinge aus der Ukraine
18. Februar 2022Die Stadt Przemysl im äußersten Südosten Polens ist von der ukrainischen Grenze nur zehn Kilometer entfernt. Schicke, frisch renovierte Häuser rund um den Marktplatz erinnern an den alten Habsburger Charme - einst gehörte dieser Teil des heutigen Polens zur österreichischen k.u.k.-Monarchie. An einem der wenigen sonnigen Februartage genießen Kunden eines Straßencafés gerade die erste Frühlingsluft. Fast könnte man vergessen, dass das Nachbarland Ukraine in Angst vor einem russischen Angriff lebt. Doch sobald man mit den Einwohnern von Przemysl ins Gespräch kommt, entdeckt man, dass ihre Gedanken eher bei der Geopolitik als bei dem schönen Wetter sind.
Falls es nämlich zu einer offenen militärischen Auseinandersetzung zwischen dem Nachbarland Ukraine und Russland kommt, könnte gerade Przemysl mit seinen 60.000 Einwohnern zu einem der ersten Zufluchtsorte für diejenigen Ukrainer werden, die ihre Heimat verlassen würden. Doch der Bürgermeister Wojciech Bakun sieht keinen Grund zu einer "verstärkten Unruhe" und glaubt nicht, dass es zu einer militärischen Eskalation zwischen Russland und der Ukraine kommt. "Ich hoffe, dass nichts Schlimmes passieren wird, dass es eher eine Angstmache seitens Russlands ist als der reale Wille, einen anderen Staat anzugreifen", sagt Bakun.
Auf Ersuchen der Regierung musste er, wie alle anderen Bürgermeister in Polen, bislang Objekte ausweisen, die als Notunterkünfte geeignet wären. Die Aufnahme von Flüchtlingen sei eine Angelegenheit, die vom Staat finanziert wird, sagt Bakun der DW. Um die Objekte instandzusetzen, müsste das nötige Geld aus der Staatskasse fließen. Bisher gäbe es aber keine Anordnungen zu konkreten Vorbereitungen.
Vorbereitung im Stillen
Dass man die Vorbereitungen nicht sieht, führt derzeit in Polen häufig zum Vorwurf, die Regierung verhalte sich passiv. "Wir arbeiten schon seit langem im Stillen, wir kündigen es nicht an, weil wir die Emotionen nicht anheizen wollen", sagt der stellvertretende Innenminister Maciej Wasik zu solchen Anschuldigungen.
Premierminister Mateusz Morawiecki will eine Arbeitsgruppe bilden, die Infrastruktur, Transport, Schulunterricht und medizinische Hilfe für die Flüchtlinge sicherstellen soll. "Der Krieg könnte einen Exodus aus der Ukraine verursachen, wir müssen auf das Schlimmste vorbereitet sein", sagte er am Dienstag (15.02.2022) während einer Pressekonferenz. Das Ministerium für Familie und Soziales verspricht den ukrainischen Kriegsflüchtlingen Kindergeld und psychologische Hilfe. "Polen wird natürlich so viele Flüchtlinge aufnehmen wie es nur kann, aber wir sind wohl nicht imstande, alle aufzunehmen", sagte Andrzej Dera, Staatssekretär in der Kanzlei des polnischen Präsidenten, am Montag (14.02.2022) im staatlichen Rundfunk. Er sprach von Millionen Menschen, die nach Polen kommen könnten.
Polen als Zufluchtsort
Ein Teil von ihnen könnte auch privat Zuflucht finden. In Polen leben derzeit über eine Million Ukrainer, die vor allem infolge der Krim-Annexion und des Donbass-Konflikts gekommen sind. Inzwischen gehören ukrainische Bauarbeiter, Taxifahrer oder Verkäufer zum polnischen Alltag. Die Wirtschaft begrüßt das, weil sie die Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllen. Sprachbarrieren gibt es kaum, weil die beiden Sprachen verwandt sind. Außerdem lebt in Polen eine ukrainische Minderheit, die 45.000 Personen zählt.
Piotr Pipka leitet in Przemysl eine der fünf Schulen im Land, die Ukrainisch als Unterrichtssprache haben. Schon jetzt erklärt er sich bereit, Kinder der Flüchtlinge aufzunehmen. Zwar muss er sich dafür zuerst durch den Behördendschungel boxen, weil die Kinder der Migranten normalerweise auf polnische Schulen verteilt werden. Dazu sei er aber bereit. "Unsere Lehrer können beide Sprachen, deshalb wäre der Kontakt zu den Flüchtlingskindern einfacher. Und für die Ankömmlinge wäre es vielleicht ein kleiner Ersatz der Heimat", sagt Pipka der DW. Er erzählt von der Hilfsbereitschaft der hier lebenden Ukrainer. Schon jetzt hätten einige ukrainische Familien in Przemysl privat Zuflucht gefunden.
Angst vor Kriegsschrecken
Die Religionslehrerin an seiner Schule, die griechisch-katholische Schwester Danjilya, hat im örtlichen Nonnenkloster vor kurzem ein Gästezimmer für eine Familie aus Kiew bereitgestellt. Iryna Gavrilyaka ist hier mit ihren beiden Töchtern, neun und fünf Jahre alt. Sie will aber nicht Flüchtling genannt werden, weil sie auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimat hofft. Sie spricht von einem kleineren "Urlaub" in Polen. Das Zimmer hat sie erst einmal für eine Woche, doch ihre Koffer sehen eher nach einem längeren Aufenthalt aus.
Der unmittelbare Anstoß für ihre Polenreise waren die Evakuierungsübungen in der Schule ihrer Tochter. Sie habe nicht mit dem Gedanken fertig werden können, erzählt sie der DW, dass dieses Szenario eines Tages Wirklichkeit werden könne und ihre Töchter Kriegsschrecken erleben müssten. "Ich bekam eine Nachricht von der Schule, dass dort der Keller vorbereitet wird, in dem es eine Versorgung mit Wasser, Essen, Spielzeug für Kinder und Decken geben soll und wo die Kinder fünf Tage lang in Sicherheit bleiben können, wenn etwas passiert. Dann versteht man, dass die Lage sehr ernst ist", sagt sie. Die Reise nach Polen sei wie eine Lebensversicherung, erklärt sie der DW: "Wir kaufen eine Krankenversicherung oder eine Autoversicherung in der Hoffnung, dass wir sie nie brauchen werden. Dass wir hierher gekommen sind, ist wie eine Versicherung für unsere Kinder. Aber wir hoffen wirklich, dass diese Versicherung nie benötigt wird."
Gemischte Gefühle
Trotzdem ist die Hilfsbereitschaft keine Selbstverständlichkeit in Przemysl. Gerade hier, im Südosten Polens, sind alte Wunden von früheren Konflikten zwischen den beiden Völkern noch nicht geheilt. 1943 und 1944 wurden zwischen 50.000 und 100.000 Polen von ukrainischen Nationalisten im sogenannten Wolhynien-Massaker ermordet. Als Vergeltung siedelten die kommunistischen Machthaber Polens 1947 im Rahmen der "Aktion Weichsel" rund 150.000 ethnische Ukrainer in nördliche und westliche Regionen Polens zwangsweise um.
Und so hört man auf dem lokalen Markt von Przemysl nicht nur versöhnliche Töne. "Ich werde den Ukrainern nicht helfen, wenn sie zu uns kommen", sagt eine 70-jährige Frau auf dem Markt. Ihre Mutter sei von den Ukrainern während der Wolhynien-Morde vergewaltigt worden. "Die Ukrainer? Die mag ich nicht. Sie haben uns viel Leid angetan. Aber ich bin Christ und wenn sie Hilfe brauchen, dann müsste ich helfen", so ein älterer Mann.
Eine Frau Mitte 60 erklärt: "Ich habe schon ausführlich mit meiner Tochter diskutiert, was wir machen würden, wenn wir hier ukrainische Flüchtlinge hätten. Essen - ja, sie können gerne bei mir Essen bekommen. Aber ich würde sie nicht bei mir übernachten lassen. Ich habe kein Vertrauen zu den Ukrainern." Eine 35-jährige Frau, die am Grenzübergang arbeitet und dort jeden Tag, wie sie sagt, neue Einzelheiten über die Lage in der Ukraine hört, hätte aber keine Bedenken: "Die sind Menschen wie wir. Klar werde ich helfen, wenn ich kann."