Polen und der Visa-Skandal: Ein Wahlproblem für die PiS?
18. September 2023Vier Wochen vor der Parlamentswahl am 15.10.2023 scheint die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in eine von ihr selbst gestellte Falle zu laufen. Die polnischen Rechtspopulisten hetzen seit Jahren gegen Flüchtlinge aus Staaten, in denen überwiegend Muslime leben. Im Wahlkampf werben die Politiker mit der Parole "Sichere Zukunft für Polen" um Stimmen und behaupten, nur sie könnten das Land und Europa vor der "Überflutung" durch illegale Immigration aus Afrika und Asien retten. Und bei einer Volksbefragung, welche die PiS zusammen mit der Parlamentswahl stattfinden lassen möchte, um durch die angesprochenen Themen noch kurzfristig Stimmen zu gewinnen, geht es in zwei der vier Fragen um Migration.
Die neuesten Enthüllungen von unabhängigen polnischen Medien stellten jedoch die Glaubwürdigkeit der PiS-Regierung in Frage. Denn bei der Visavergabe in polnischen Konsulaten außerhalb Europas soll es Unregelmäßigkeiten und Korruption gegeben haben. Das Image einer Partei, die sich als der einzige Garant der sicheren Grenzen darstellt, gerät ins Wanken.
Polens Vize-Außenminister muss gehen
Als am 31.08.2023 der polnische Vize-Außenminister Piotr Wawrzyk, der unter anderem auch die polnischen Konsulate weltweit beaufsichtigte, plötzlich entlassen wurde, kannten nur wenige Insider den wirklichen Grund. Er verlor auch seinen sicher geglaubten Platz auf der Wahlliste. Erst in der zweiten Septemberwoche kam ans Tageslicht, dass die Staatsanwaltschaft bereits im März 2023 Ermittlungen wegen Unregelmäßigkeiten bei der Visavergabe eingeleitet hatte. Inzwischen wurden sieben Personen festgenommen, drei sitzen weiterhin in Untersuchungshaft.
Die polnische Opposition witterte sofort ihre Chance, die PiS kurz vor dem Urnengang der Heuchelei in der Migrationsfrage zu überführen. "Die PiS hat eigene Ideale, eigene Werte verraten. Sie hat die Sicherheit versprochen und eine Gefahr verursacht", sagte Michal Szczerba, Abgeordneter der größten Oppositionspartei Bürgerplattform (PO), dem Fernsehsender TVN diesen Montag. Nach einer Kontrolle im Außenministerium in der vergangenen Woche gab Oppositionsführer Donald Tusk bekannt, dass etwa 250.000 polnische Visa der vergangenen 30 Monate zu beanstanden seien - ausgestellt an Menschen aus Afrika und Asien.
Falscher Bollywood-Film für Schengen-Visa
Nach Berichten des Portals Onet und der Tageszeitung Gazeta Wyborcza soll Vize-Außenminister Wawrzyk ein System bei der Visavergabe gefördert haben, das die Beschleunigung des Verfahrens gegen Bestechungsgeld ermöglichte. Er soll auch auf die Leiter der Konsulate Druck ausgeübt haben, damit sie von ihm ausgesuchten Personen im Schnellverfahren Visa erteilen.
Laut Onet hätten auf diese Weise etwa 36 indische Staatsbürger, die sich als Filmleute aus Bollywood ausgaben, Schengen-Mehrfachvisa erhalten. Wie das Newsportal berichtet, gab es sogar einen Titel für den Film - bei genaueren Nachforschungen habe sich allerdings ergeben, dass der angebliche Choreograph nicht tanzen konnte und der Maskenbildner nie im Filmbereich gearbeitet hatte. Mehrfach-Visa sind besonders begehrt, weil sie die Einreise nach Mexiko ermöglichen, von wo aus man leichter in die USA geschmuggelt werden kann. Von dieser Möglichkeit haben laut Informationen von Onet 21 der 36 Mitglieder des angeblichen Filmteams Gebrauch gemacht.
Großer Skandal - oder einfach nur eine "dumme Idee"?
Das Regierungslager versuchte zunächst, die Affäre herunterzuspielen und auszusitzen. "Tusk spricht von Hunderttausenden. Das ist Lüge, Lüge und nochmals Lüge", griff PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski auf einer Wahlveranstaltung am Samstag (16.09.2023) in Thorn seinen größten Widersacher im aktuellen Wahlkampf an. "Es gibt keine Affäre, nicht mal ein Affärchen, sondern nur eine dumme Idee mit einem kriminellen Hintergrund", erklärte der Anführer der polnischen Rechtspopulisten.
Justizminister Zbigniew Ziobro gab bekannt, dass die Ermittlungen genau 268 Fälle beträfen - und nicht etwa 250.000. Ins Visier der Staatsanwälte gerieten unter anderem Konsulate in Indien, den Philippinen, Singapur und Hongkong sowie Taiwan. Nach Ziobros Angaben deckte der polnische Geheimdienst die Korruption selbst auf. Regierungsferne polnischen Medien behaupten dagegen, ausländische Geheimdienste, vor allem aus den USA, hätten die polnische Seite gewarnt.
"Keine Affäre, kein Affärchen? Dann vielleicht wenigstens ein klitzekleines Affärchen", kommentierte der liberale Oppositionsführer Donald Tusk Kaczynskis Worte auf der Social-Media-Plattform X (vormals Twitter). Die Opposition fordert den Rücktritt von Außenministers Zbigniew Rau, der das allerdings ausschloss. "Es hat keine Visa-Affäre gegeben", sagte er am Montag in New York vor Journalisten. Er betonte, dass seine Behörde in den vergangenen zweieinhalb Jahren fast zwei Millionen Visa erteilt habe, die meisten an Staatsbürger aus der Ukraine und Belarus. Was nun in der Öffentlichkeit diskutiert werde, sei "eine Kaskade von Fake News".
Polens Regierung greift in der Visa-Affäre hart durch
Dass die Affäre an anderer Stelle allerdings keineswegs als Bagatelle wahrgenommen wird, zeigen die Maßnahmen, welche die Regierung in Warschau vergangenen Freitag (15.09.2023) ergriffen hat. Der Chef der Rechtsabteilung des Außenministeriums, Jakub Osajda, ein enger Vertrauter von Wawrzyk, wurde mit sofortiger Wirkung entlassen. In der Konsularabteilung des Außenministeriums sowie allen polnischen Konsulaten weltweit wurden Kontrollen angeordnet. Zudem wurden alle Verträge mit privaten Firmen gekündigt, die als Vermittler bei Visaangelegenheiten fungiert hatten.
In den von der PiS kontrollierten Medien wurde die Visa-Affäre lange Zeit mit keinem Wort erwähnt - der staatliche Fernsehsender TVP berichtete stattdessen etwa über die hohe Zahl an neuankommenden Migranten auf Lampedusa. Um diese Mauer des Schweigens zu durchzubrechen, hielt PO-Politiker Tomasz Grodzki am Freitag zur besten Sendezeit eine TV-Ansprache, die auch vom Staatsfernsehen live übertragen werden musste - als Vorsitzender des Senats hat Grodzki das Recht auf solche öffentlich übertragenen Ansprachen. "Die Visa-Affäre ist der bisher größte Skandal Polens im 21. Jahrhundert", sagte der PO-Politiker.
Einen Tag später schlug die Vorsitzende der Abgeordnetenkammer im Sejm und PiS-Politikerin Elzbieta Witek zurück: "Man kann die Lügen nicht unbeantwortet lassen." Sie nutzte ihre Fernsehansprache wiederum für einen Angriff auf die Opposition. "Tusk bedeutet Lampedusa in Polen", warnte sie.
Bleibt Polen im Schengen-Raum?
Manche Polen machen sich aufgrund der Affäre nun Sorgen um den Verbleib Polens im Schengen-Raum. "Wenn sich die Vorwürfe bestätigen, wird man Polen aus dem Schengen-Raum werfen", warnte der ehemalige polnische Botschafter in Lettland und Armenien, Jerzy Marek Nowakowski.
In einer Umfrage, die die Tageszeitung Rzeczpospolita diesen Montag, 18.09.2023, veröffentlichte, meinten 30 Prozent der Befragten, dass die Visa-Affäre der PiS bei der Wahl schaden wird. Knapp 40 Prozent sind der Meinung, dass die Rechtspopulisten auch diesen Skandal überstehen werden.