Happy End für das deutsch-polnische Geschichtsbuch
16. Juli 2024Es ist das Flaggschiff der deutsch-polnischen Partnerschaft: das gemeinsame Geschichtsbuch "Europa - Unsere Geschichte". Seit 2008 arbeiten Dutzende Wissenschaftler aus Polen und Deutschland an dem Projekt. Der letzte Band - in Deutschland der vierte, in Polen der siebte und achte - ist seit 2020 fertig. Doch anders als in Deutschland konnte in Polen die Publikation wegen der Vorbehalte der national-konservativen Vorgängerregierung bisher nicht im Schulunterricht eingesetzt werden. Erst der Machtwechsel zur Mitte-Links-Koalition von Donald Tusk im Dezember 2023 gab dem deutsch-polnischen Vorzeigeprojekt eine neue Chance.
In der vergangenen Woche nun hat das von der linksliberalen Politikerin Barbara Nowacka geleitete Bildungsministerium endlich die Zulassung erteilt. Damit steht der Nutzung der gesamten Reihe in den Klassen V bis VIII der polnischen Schulen nichts mehr im Wege. Nach jahrelangem Ringen ein Happy End.
Multiperspektivität und kritisches Denken
Das sei "das Projekt meines Lebens", betont Andrzej Dusiewicz, der im polnischen Verlag WSiP das Vorhaben begleitete. "Ich bin überglücklich, dass die ganze Serie nun unter Dach und Fach ist", freut sich der Vertreter des Verlages.
"Wir haben es hier mit dem weltweit zweiten bilateralen Geschichtsbuch zu tun. Zwei Länder, von denen eines - Polen - vom anderen - Deutschland - überfallen und zerstört wurde, erwiesen sich als fähig, eine gemeinsame Erzählung über die Vergangenheit zu schaffen", unterstreicht der polnische Historiker Robert Traba, der als Co-Chef der deutsch-polnischen Schulbuchkommission die Entstehung des Schulbuches von Beginn an begleitet hat.
"Multiperspektivität" heißt nach Meinung der Experten das Schlüsselwort. "Uns war es wichtig zu zeigen, warum einem bestimmten Ereignis in Polen oder in Deutschland eine sehr unterschiedliche Rolle zukommt", sagte Marcin Wiatr, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Georg-Eckert-Instituts für Bildungsmedien, dem polnischen Rundfunk (Polskie Radio) .
Vorbild Frankreich
Als Vorbild diente das deutsch-französische Geschichtsbuch, das allerdings nur die beiden letzten Jahrhunderte behandelt, während das deutsch-polnische Projekt die Zeit von der Antike bis zur Gegenwart umfasst.
Trabas Nachfolgerin Violetta Julkowska lobt im Gespräch mit der Deutschen Welle das Konzept des deutsch-polnischen Geschichtsbuchs. "Dieses Schulbuch zeichnet sich durch Modernität aus. Es zwingt den Schülern keine Denkweisen auf, sondern wirkt eher als ein Laboratorium, eine Werkstatt, die - mit Hilfe eines guten Lehrers - lehrt, historisch zu denken", erläutert die Wissenschaftlerin von der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan (Posen). "Und: Historisches Denken ist kritisches Denken", betont Julkowska.
Langer Weg mit vielen Hindernissen
Es war Frank-Walter Steinmeier, der als Erster die Idee öffentlich ins Gespräch brachte. Der damalige Bundesaußenminister und heutige Bundespräsident schlug im Herbst 2006 in einer Rede an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder vor, ein gemeinsames deutsch-polnisches Geschichtsbuch zu erarbeiten, das Polen und Deutschen helfen sollte, "sich gegenseitig besser zu verstehen".
"Mit diesem Projekt könnten wir Deutsche deutlich machen, dass wir offen sind für polnische Sichtweisen auf die Geschichte", sagte Steinmeier. Viele Deutsche würden es als Bereicherung empfinden, diese Sichtweisen besser kennenzulernen und mehr aus der polnischen Geschichte zu erfahren, so der SPD-Politiker.
Zwei Jahre später griff der polnische Chefdiplomat Radoslaw Sikorski (Bürgerplattform) die Idee seines deutschen Kollegen auf. Beide Regierungen beauftragten die seit 1972 bestehende Deutsch-Polnische Schulbuchkommission mit der Aufgabe, Empfehlungen zu erarbeiten. Auf dieser Grundlage begann 2011 die Arbeit am Schulbuch. Bereits 2016 wurde feierlich in Berlin in Anwesenheit beider Außenminister - Steinmeier und Sikorskis Nachfolger - Witold Waszczykowski (PiS) der erste Band präsentiert. In den folgenden Jahren wurden ohne größere Probleme zwei weitere Bände veröffentlicht.
PiS blockiert: zu wenig Kirche, zu viel Berliner Mauer
Unstimmigkeiten gab es erst beim vierten Band, der den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit behandelt. Der Inhalt erwies sich als unvereinbar mit der nationalistischen Geschichtspolitik, die eine zentrale Rolle für die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) spielte. Zu wenig katholische Kirche, zu viel Berliner Mauer auf Kosten der Gewerkschaft Solidarnosc, zu kritische Beurteilung des Warschauer Aufstandes 1944 - hieß es zur Begründung.
Das Gutachten, das eine Voraussetzung für die Zulassung durch das Ministerium bildet, fiel dementsprechend negativ aus. Vor der formellen Ablehnung, die ein endgültiges Aus bedeutete, zog der Verlag das Buch zurück. "Wir wollten auf bessere Zeiten warten", erinnert sich Dusiewicz vom polnischen Verlag WSiP.
Geduldige Arbeit an der Basis
Viele engagierte Projekt-Beteiligte wollten allerdings nicht tatenlos auf den unsicheren Machtwechsel warten. "Wir organisierten zahlreiche Konferenzen und Arbeitstreffen, um die Lehrer mit dem Geschichtsbuch bekannt zu machen", sagt Julkowska. "Dank dieser Arbeit an der Basis gibt es heute einen breiten Kreis von Pädagogen, die sofort nach der Zulassung mit dem Buch arbeiten können", betont die Historikerin aus Poznan.
Obwohl die ersten drei Bände seit Jahren zugelassen sind, arbeiteten die polnischen Lehrer bisher kaum mit der Buchreihe, weil die Zulassung für den letzten Band fehlte. Jetzt, da die vollständige Serie auf der offiziellen Liste des Bildungsministeriums steht, rechnen die Autoren mit steigendem Interesse in Polen. Die Entscheidung, ob die deutsch-polnischen Geschichtsbücher eingesetzt werden, bleibt aber bei den Lehrkräften.
Auch die deutsche Seite hat noch viel zu tun, obwohl bis Ende vergangenen Jahres ca. 30.000 Exemplare verkauft wurden. In Bayern wird das deutsch-polnische Geschichtsbuch wegen mangelnder Regionalaspekte nicht verwendet.
Allem Anschein nach bleibt das gemeinsame Geschichtsbuch keine exklusive deutsch-polnische Erfolgsstory. In der Ukraine, in Litauen und auf dem Westbalkan gibt es bereits Interesse an dem Projekt.