Politische Gewalt boomt - warum?
11. Mai 2022Während die Corona-Infektionszahlen in Deutschland aktuell stark sinken, hat die Pandemie in der am Dienstag (10. Mai 2022) in Berlin vorgestellten Statistik über politisch motivierte Kriminalität (PMK) 2021 indirekt einen Boom ausgelöst. Denn ein Großteil der erfassten Straftaten steht im Zusammenhang mit Protesten gegen staatliche Corona-Maßnahmen - von der Sachbeschädigung über Verstöße gegen das Versammlungsrecht bis zum Mord.
Ein Maskenverweigerer wird zum Mörder
Als "furchtbaren Höhepunkt" bezeichnet Bundesinnenministerin Nancy Faeser den Mord an einem 20-jährigen Tankstellen-Mitarbeiter in Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz). Der mutmaßliche Täter hat den jungen Mann erschossen, weil er von ihm auf die Maskenpflicht hingewiesen worden war. Die PMK-Bilanz insgesamt bezeichnet die Sozialdemokratin als "Gradmesser für die Intensität gesellschaftlicher Konflikte".
Die 55.048 von der Polizei registrierten Delikte bedeuten ein Plus von 23 Prozent binnen eines Jahres und sind zugleich ein Allzeithoch der 2001 eingeführten Statistik. Besonders angestiegen ist die Zahl von Straftaten, die vom federführenden Bundeskriminalamt (BKA) in der Kategorie "nicht zuzuordnen" verbucht werden. Also alle Taten, die die Ermittler nicht als links, rechts oder von einer ausländischen oder religiösen Ideologie motiviert bewerten. Fast 150 Prozent beträgt hier der Zuwachs: von gut 8.600 auf mehr als 21.000. Dabei haben jeweils rund 7.000 Fälle einen Bezug zur Corona-Pandemie sowie zu Bundestags- und Landtagswahlen.
BKA-Chef hält "Querdenker" für eine "heterogene Mischszene"
BKA-Präsident Holger Münch bezeichnet die aus polizeilicher Sicht oft schwer einzuschätzenden Milieus als "heterogene Mischszene". Was sie eine, sei in weiten Teilen eine "staatskritische bis staatsfeindliche Haltung". Mit Blick auf die inzwischen abflauenden Corona-Demonstrationen sei besonders die "Querdenken"-Bewegung zu nennen. Dabei sei die rechte Szene bemüht gewesen, Proteste für ihre Zwecke zu instrumentalisieren "und Anschluss an die zivildemokratische Mitte der Gesellschaft herzustellen".
Es sei aber nicht gelungen, in einem "nennenswerten, prägenden Umfang" Einfluss zu nehmen. Unabhängig davon teilen der BKA-Chef und die deutsche Innenministerin den aus ihrer Sicht wichtigsten Befund: "Rechtsextremismus ist derzeit die größte Bedrohung für unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft". Auch wenn die Fallzahlen in diesem Bereich leicht rückläufig seien, stellten sie mit 40 Prozent immer noch den größten Anteil bei allen Straftaten.
Nancy Faeser über Antisemitismus: "Schande für unser Land"
Die "größten Sorgen" macht sich Nancy Faeser wegen judenfeindlicher Delikte, die um 29 Prozent auf den neuen Höchststand von über 3.000 zugenommen haben. Es sei eine "Schande für unser Land", wie viel antisemitische Hetze und Menschenverachtung auch heute noch verbreitet werde. Und beschämend, "wie der Völkermord an den europäischen Juden von manchen Corona-Leugnern, die sich einen gelben Stern anheften, verharmlost wurde".
Kritik an der hohen Zahl nicht zuzuordnender Straftaten kommt aus Teilen der Zivilgesellschaft. Die Einordnung politisch motivierter Gewalt sei nicht nur eine Frage von Statistiken, sagt die Rechtsextremismus-Expertin Pia Lamberty. Das Milieu der Corona-Leugner habe sich "stark radikalisiert" und zeige eine "klare Gewaltbereitschaft", sagt die Geschäftsführerin des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie.
Schleppende Aufklärung nach dem Attentat in Hanau 2020
Die Sozialpsychologin erkennt im Corona-Protest zahlreiche Bezüge zum Rechtsextremismus. Unter dem Eindruck der massiv gestiegenen judenfeindlichen Straftaten sagt sie: "Ein verschwörungsideologisches Weltbild ist eng verwoben mit rassistischen und antisemitischen Elementen." All das gefährde Menschen, "die als Feinde ausgemacht werden".
Was es bedeutet, ins Visier von Rassisten zu geraten, hat Etris Hashemi erlebt. Als Überlebender und Hinterbliebener des Attentats vom 19. Februar 2020 in Hanau (Hessen) vermisst er bei der Polizei und in der Politik oft die "Einsicht in die Fehler". Mit den offenen Fragen befasst sich im hessischen Landtag inzwischen ein Untersuchungsausschuss.
Straftaten in Folge des Ukraine-Kriegs
Dafür hat sich auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser eingesetzt, die vor ihrem Wechsel nach Berlin Abgeordnete in Hessen war. "Ich denke, dass wir mit Nancy Faeser einiges erreichen können", sagt Etris Hashemi mit Blick auf den Kampf gegen Rassismus. Große Hoffnungen verbindet er vor allem mit dem Aktionsplan gegen Rechtsextremismus, den die Politikerin auf den Weg gebracht hat.
Derweil müssen sich die Innenministerin und die Sicherheitsbehörden mit einem neuen Phänomen womöglich politisch motivierter Gewalt beschäftigen, das seinen Ursprung in Russlands Krieg gegen die Ukraine hat. Als Reaktion darauf registriert das Bundeskriminalamt nämlich auch Straftaten in Deutschland. Anfangs seien es rund 270 pro Woche gewesen, die sich mehrheitlich gegen russischstämmige Menschen gerichtet hätten, sagt BKA-Präsident Münch. Inzwischen seien es deutlich unter 200. "Die emotionale Kurve hat sich abgeschwächt." Das jedoch kann sich jederzeit wieder ändern.