Machtvakuum in Libyen
12. März 2014Der Verfall politischer Institutionen in Libyen hat mit der Absetzung des Übergangspremiers Ali Seidan eine neue Dimension erreicht. Der Regierungschef war am Dienstag (11.03.2014) von einer Mehrheit im provisorischen Parlament aus dem Amt gejagt worden. Verteidigungsminister Abdullah al-Thinni soll für zunächst zwei Wochen die Regierungsgeschäfte führen. Danach muss sich das Parlament auf einen neuen Premier einigen. Wie schnell das gelingt, ist ungewiss. Derweil hat das nordafrikanische Land weder eine Verfassung noch ein gewähltes Staatsoberhaupt. Auch die Amtsperiode des Übergangsparlaments ist eigentlich schon abgelaufen. Im Osten des Landes spitzt sich der Konflikt um Ölhäfen unter Rebellenkontrolle (Foto) zu. Milizen, die formal der libyschen Armee unterstehen, vertrieben Aufständische aus der Küstenstadt Sirte. Nachdem es den Rebellen gelungen war, mit dem Öltanker "Morning Glory" den Hafen von Al-Sidra zu verlassen, gehen Einheiten der Zentralregierung gegen die Aufständischen vor.
Der gestürzte Regierungschef Seidan verließ Libyen unmittelbar nach dem Misstrauensvotum gegen ihn. Die Regierung von Malta bestätigte, dass Seidan dort einen kurzen Zwischenstopp einlegte. Angeblich soll er nach Deutschland geflogen sein, es gibt dafür aber noch keine offizielle Bestätigung. Mit seiner fluchtartigen Abreise kam der Ex-Diplomat offenbar seiner Festnahme zuvor. Ihm wird Korruption vorgeworfen.
Der glücklose Premier hatte es in den vergangene Tagen nicht geschafft, die Rebellen im Osten des Landes am Verkauf von Rohöl auf eigene Rechnung zu hindern. Obwohl regierungstreue Kämpfer dafür sorgen sollten, dass der Tanker "Morning Glory" den Hafen von Al-Sidra nicht verlässt, konnte das Schiff unter nordkoreanischer Flagge entkommen. Al-Sidra wird seit Monaten von Rebellen gehalten. Die Schlappe ließ die Stimmung im provisorischen Parlament gegen Seidan umschlagen. Allerdings wurde nach der Abwahl Kritik laut, dass bei der Abstimmung getrickst worden sei.
Rebellenchef Ibrahim Dschadhran geht zunächst als Gewinner aus dem Nervenkrieg um die strategisch wichtigen Ölhäfen hervor. Er war bis Juli 2013 der Kommandeur der Einheit zum Schutz der Ölanlagen, wie die Libyen-Expertin der britischen DenkfabrikChatham House, Amanda Kadlec, erklärt. "Das ermöglichte ihm den Zugang zu allen Hafenanlagen in Libyen", sagt Kadlec im DW-Gespräch. Seine Anhänger besetzten drei Ölverladeterminals. Mit Mitstreitern rief er eine Regierung für einen Teil Ostlibyens aus. Wie viele Kämpfer Dschadhran befehligt, ist unklar. "Einige sagen, er habe nur 800 Kämpfer, andere gehen von 10.000 oder 20.000 aus", erklärt die Chatham-House-Analystin.
Viele Ostlibyer wollen mehr Autonomie
Die ostlibysche Cyrenaika-Region unterscheidet sich in ihrer Geschichte und Kultur vom westlibyschen Tripolitanien. Viele Ostlibyer fühlen sich von der Hauptstadt benachteiligt. Sie forderten einen größeren Anteil an den Öleinkünften und mehr politische Selbstbestimmung, beschreibt Arturo Varvelli vom italienischen Institut für internationale politische Studien (ISPI) die Lage. "Aber es ist nicht klar, ob sie Separatisten sind oder nur mehr Autonomie wollen", kommentiert der Forscher aus Mailand. Außerdem seien viele gegen den Konfrontationskurs von Dschadhran. So sei der wichtigste Stamm der Region gegen eine Abspaltung der Cyrenaika.
Im Allgemeinen Nationalkongress Libyens profitiert vor allem Parlamentspräsident Nuri Abu Sahmain von der Abwahl Seidans. Die beiden waren seit langem Gegenspieler im Abgeordnetenhaus. Abu Sahmain wird nachgesagt, dass er bei der kurzzeitigen Entführung von Seidan im vergangenen Oktober eine Rolle gespielt habe. Mit der Tanker-Krise hat er laut Kadlec wohl nichts zu tun. "Abu Sahmain steht den islamistischen Lagern nahe", kommentiert die Expertin. Die Islamisten wiederum seien auch gegen Rebellenführer Dschadhran.
Ein wesentlicher Unruhefaktor sind die Hunderte von lokalen Milizen, die im Bürgerkrieg gegen Diktator Muammar al-Gaddafi 2011 entstanden sind. Einige der teilweise uniformierten und gut bewaffneten Truppen verhalten sich loyal zur Regierung in Tripolis. Andere wollen dagegen verhindern, dass die Zentralregierung ihren Einfluss beschneidet. Immer wieder haben Milizen mit Gewalt Regierungsinstitutionen blockiert oder gestürmt, wenn sie Entscheidungen aus Tripolis ablehnten.
Ethnische Gruppen boykottieren Verfassungsgremium
Auch die ethnischen Minderheiten in dem Sechs-Millionen-Einwohner-Land sind mit der Zentralregierung unzufrieden. Berber, Tuareg und Tubu leben vor allem im Westen und Süden Libyens. Sie fordern Anerkennung für ihre Kultur und mehr Mitsprache in der Politik. "Sie wollen eine Hauptrolle spielen und keine Nebenrolle", betont Varvelli. Die Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung im Februar 2014 hatten sie boykottiert. Ihnen war die Zahl der Sitze, die in dem Gremium für sie vorgesehen sind, zu klein.
Um aus der politischen Krise herauszukommen, braucht Libyen nach Ansicht von Kadlec mehr als nur eine neue Regierung. Dazu zählen eine Neuwahl des Parlaments, die in den kommenden drei Monaten stattfinden soll, und eine neue Verfassung. Außerdem müsse der nationale Dialog vorangetrieben werden, der die verschiedenen bewaffneten Gruppen an einen Tisch bringen soll. Nur wenn das alles gelinge, könne sich die verheerende Lage verbessern.