Polizei-Schikane gegen Jugendliche?
14. August 2018Anna Pawlikowas Blick geht ins Leere. Die mittlerweile 18-Jährige sieht traurig aus, sitzt hinter einer hohen Glaswand in einem Gerichtssaal in Moskau. Vor ihr ein Blitzgewitter vieler Kameras. Sie wird umrahmt von russischen Polizisten, die sie soeben in Handschellen in den Saal gebracht haben. Ihre Anwältin sitzt an einem Tisch auf der anderen Seite der gepanzerten Glaswand, blättert in Akten.
Die als Tierpflegerin arbeitende Anna Pawlikowa wird beschuldigt, eine extremistische Gemeinschaft unter dem Namen "Neue Größe" mitgegründet zu haben. Der Artikel 282.1 des russischen Strafgesetzbuches stellt dies unter Strafe. Das Strafmaß reicht von einer Geldstrafe von 200.000 Rubeln (umgerechnet 2.500 Euro) bis zu maximal acht Jahren Gefängnis.
Als die Beschuldigte die Straftat begangen haben soll, war sie 17 Jahre alt. Das war vor über fünf Monaten. Seitdem sitzt Anna Pawlikowa entweder im Gefängnis oder - ihrer schlechten Gesundheit wegen - in einem Gefängniskrankenhaus.
Einem Provokateur auf den Leim gegangen?
Annas ältere Schwester, Anastasija Pawlikowa, hält die Anschuldigungen für absurd und vor allem für konstruiert. Der Deutschen Welle sagt sie, dass Anna einem Provokateur des russischen Geheimdienstes FSB auf den Leim gegangen sei. Ihrer Schwester hätte sich mit anderen Jugendlichen in einem Schnellrestaurant auf der Fußgängerzone Arbat in Moskau getroffen. Drei Männer, die sich später als Mitarbeiter des Geheimdienstes entpuppten, hätten sich zu ihnen gesellt. Einer von ihnen (Ruslan D.) habe immer schärfere, weitreichendere politische Forderungen gestellt und sogar ein politisches Programm formuliert. Ausgerechnet sein Bericht, seine Aufzeichnungen dienen nun der Anklage als Beweis für die angebliche Straftat.
Von den zehn Leuten, die sich im Schnellrestaurant getroffen haben, seien laut Medienberichten nun vier im Gefängnis, sechs stünden unter Hausarrest. Nach welcher Logik diese Aufteilung erfolgt, ist unklar.
Beobachter gehen davon aus, dass es mit den unterschiedlichen Richtern zu tun haben könnte, denen sie vorgeführt wurden. Anna Pawlikowa hatte nach dieser Theorie offenbar Pech. Sie habe eine besonders strenge Richterin bekommen, meint Lew Ponomarjow, Chef der Nichtregierungsorganisation (NGO) "Für Menschenrechte". Er unterstützt die Familie Anna Pawlikowas. Der 76-jährige Menschenrechtler hält Anna für unschuldig, sagt er der Deutschen Welle.
Aufmerksamkeit dank NGOs
Der Prozess sei ein Beispiel für Behördenwillkür. Seiner Meinung nach, gebe es zu viele Mitarbeiter in Russlands Sicherheitsdiensten. Die hätten nicht genug zu tun. Spitzeldienste wie im Falle Anna Pawlikowas dienten letztlich ihrer Daseinsberechtigung, sagt er.
Lew Ponomarjow gehört zu den prominentesten Menschenrechtsaktivisten Russlands. Er hat schon mit dem ermordeten Oppositionspolitiker Boris Nemzow oder der ebenfalls erschossenen Journalistin Anna Politkowskaja zusammengearbeitet. Rund 20 Mitarbeiter zählt seine Organisation. Lew Ponomarjow fordert die sofortige Freilassung Anna Pawlikowas. Eine entsprechende Petition auf "Change.org" haben inzwischen 136.000 Menschen unterschrieben.
Dank des Engagements russischer NGOs berichten immer mehr Sender, Web-Seiten und Zeitungen über den Prozess. An diesem Mittwochabend (15.08.2018) organisieren Freunde von Anna Pawlikowa einen "Marsch der Mütter" auf dem Puschkinplatz in Moskau, keine zehn Gehminuten vom Kreml entfernt. Bislang haben auf Facebook 1.200 Menschen ihr Kommen zugesagt. Und das, obwohl die russischen Behörden den Protest nicht genehmigt haben. Zumindest bislang nicht. Doch am Ende können sich selbst die größten Kreml-Kritiker nicht vorstellen, dass Sicherheitskräfte demonstrierende Mütter mit Gewalt auseinandertreiben.
Inzwischen wächst die Hoffnung, dass der öffentliche Druck über kurz oder lang die Behörden zum Einlenken zwingt und die Beschuldigten freigelassen werden. Für Anna Pawlikowa geht der juristische Spießrutenlauf erstmal weiter. Die Richter haben ihren Fall vertagt.