Polnische Paramilitärs üben für den Ernstfall
11. Juni 2016Piotr Czuryłło ist ein sogenannter Prepper - einer, der für den Ernstfall vorbereitet sein will. Die Prepper errichten Schutzbauten und sammeln Vorräte - alles in Eigenregie. Für Piotr ist das kein Hobby, sondern eine Haltung. Die ganze Familie macht mit. Die Czuryłłos leben mit zwei Kindern in einem Dorf in Nordostpolen, knapp 100 Kilometer von der russischen Enklave Kaliningrad entfernt. Auf militärischen Landkarten ist die Gegend seit dem NATO-Beitritt Polens als ein besonders sensibler Streifen gekennzeichnet: Im Ernstfall könnte Russland blitzschnell einen "Korridor" zwischen Kaliningrad und Weißrussland schaffen und so die baltischen Staaten von ihren Verbündeten im Westen abschneiden.
Viele Bewohner des Nordostens Polens befürchten, dass sie in diesem Fall als erste betroffen sein könnten. Auch deshalb ist Piotr Czuryłło ein Prepper geworden. "Unsere Geschichte hat uns gezeigt, dass sich ein ruhiges Leben ganz schnell in einen Krieg verwandeln kann", erklärt der 50-Jährige. Seit sieben Jahren übt er deshalb mit seiner Familie diverse Überlebensstrategien. Fast jedes Wochenende wirkt wie ein Erlebniscamp: Gemeinsam sammeln sie Pilze und Kräuter, gehen auf die Jagd und schlafen manchmal draußen im Wald.
"Polen hat auf euch gewartet"
In Polen gibt es rund 50.000 Preppers wie Piotr. Weitere 35.000 sind in paramilitärischen Verbänden organisiert. Die Uniformen, die Ausrüstung, Gewehre und militärische Übungen finanzieren sie sich selbst. Neulich wurde eine Crowdfunding-Aktion auf Facebook bekannt, bei der ein Danziger Schützenverein genug Geld für ein Maschinengewehr sammelte.
Solch ein Potenzial sollte nicht verloren gehen, dachte Piotr - und organisierte einen paramilitärischen Kongress. Das patriotische Aufbegehren will die Regierung in Warschau nutzen. Immerhin sind es möglicherweise Tausende Männer, die "im Notfall" eine Freiwilligen-Armee bilden könnten. Das entspricht etwa einem Drittel der aktuellen Zahl der polnischen Soldaten.
Deshalb besuchte Verteidigungsminister Antoni Macierewicz Anfang Juni den Kongress der Paramilitärs im polnischen Ostróda, den Prepper Czuryllo mitorganisiert hat. Macierewicz musterte dabei 1000 Schüler aus den sogenannten "Uniformklassen" und erntete Beifall, als er sagte, sie seien "die Zukunft der modernen polnischen Armee". Mittlerweile gibt es 300 Schulen in Polen, die "Uniformklassen" führen: Leistungskurse mit den Schwerpunkten Militärunterricht und Sport, aber auch Geschichte und Patriotismus. "Das Vaterland hat auf euch gewartet", motivierte der Minister die Jugend. Sein Pressesprecher erklärte im staatlichen Fernsehen, "Sicherheit ist derzeit in Mode" und Warschau wolle diesen Trend unterstützen.
Belohnung für Vaterlandsliebe
Das Ministerium will die wachsende militärische Begeisterung der Polen unterstützen. Nach der Reform der Landesverteidigungsstrukturen könnte jeder registrierte Freiwillige umgerechnet 120 Euro pro Monat bekommen. "So etwas hat es noch nie gegeben", sagt Czuryłło begeistert von der Idee der nationalkonservativen PiS-Regierung, die damit ein deutliches Zeichen ans Volk sendet: Patriotismus und Kampfbereitschaft lohnen sich.
Ausgewählte Paramilitärs dürfen schon jetzt mit den Profis üben. Bis Sonntag nehmen in Polen zum ersten Mal Freiwillige an NATO-Übungen teil, im Rahmen von "Anakonda", dem größten NATO-Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges in Polen. "Wir rechnen mit rund 500 Freiwilligen", sagt der neue Regierungsbevollmächtigte für die Freiwilligenmiliz, Waldemar Zubek, im Gespräch mit der DW. Ab dem Herbst sollen die paramilitärischen Einheiten auch regelmäßig gemeinsam mit der polnischen Armee üben.
Neues Gesetz für den Ernstfall
In Warschau ist die Aufregung derzeit hoch. Kurz vor dem wichtigsten Ereignis der letzten Jahre - dem NATO-Gipfel Anfang Juli - wird dort auch an Grundsätzen für einen schnellen NATO-Beistand im Ernstfall gearbeitet. Der NATO-Vertrag sieht vor, dass jedes Land im Angriffsfall auf die Bündnishilfe zählen kann. Die Polen wollen dies weiter vereinfachen und arbeiten derzeit an einem neuen Gesetz, das noch vor dem NATO-Gipfel in Kraft treten soll.
Das Gesetz würde einen schnelleren Einmarsch der NATO-Truppen im Ernstfall ermöglichen: Die notwendige Entscheidung soll in Zukunft der Präsident auf Antrag des Regierungschefs treffen, ohne dass der Sejm befragt werden müsste. Würde man das Parlament einbeziehen, verlöre man nur Zeit, erklärt der Vize-Verteidigungsminister Tomasz Szatkowski - und fügt hinzu: "Wir müssen vorsorgen, dass uns hier keine grünen Männchen auftauchen", in Anspielung auf die Destabilisierung der Krim vor der Annexion durch Russland. Die Rhetorik passt gut zur Stimmung im Land: Nur ein Drittel der Polen glaubt, dass die NATO ihrem Land im Notfall sofort helfen würde. Zwei Drittel zweifeln noch daran oder sind unentschlossen.
Die Überlebenskünstler
Auch Piotr Czuryłło gehört zu den Skeptikern. Als die offizielle Delegation den Kongress in Ostróda verlässt, eilt auch er zurück nach Hause. Den schicken Anzug tauscht er dort gegen die Outdoor-Kleidung ein und geht wieder in den Wald - zusammen mit seiner Familie.
"Wir werden wieder ein Lager in der Natur aufbauen", sagt Piotr und erzählt stolz von seinen jüngsten Erziehungserfolgen. "Meine zehnjährige Tochter kann schon rohes Hirschfleisch essen und lernt gerade, Gerichte aus Kräutern zuzubereiten." Sie sei nicht so blass und schwach wie andere Mädchen in ihrem Alter und verbringe ihre Freizeit nicht mit Smartphone und Computer. Und sein dreijähriger Sohn könne schon mit Pfeil und Bogen umgehen. Es gelte, "die ursprünglichen Instinkte" der Kinder zu stärken. "Unsere Familie würde jeden Krieg überstehen", sagt der 50-jährige Prepper. Wie lange? "Solange es Wasser gibt."