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Armenhaus oder Erfolgsstory?

Jochen Faget (Lissabon)23. Februar 2015

Problemfall oder Musterschüler: In- und ausländische Regierungspolitiker feiern Portugal bereits als Beispiel für eine erfolgreiche Sparpolitik - Hilfsorganisationen warnen vor ungelösten Problemen.

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Portugal gegen griechischen Schuldenschnitt Foto: DW/J. Faget)
Bild: DW/J. Faget

Nicht einmal die Portugiesen sind sich bei der Lagebeurteilung einig: Auf der einen Seite die Regierung und viele Wirtschaftsfachleute, die sagen, das Schlimmste sei vorbei. Auf der anderen Sozialarbeiter und die Vertreter fast aller Hilfsorganisationen, die meinen, zumindest die soziale Krise werde sich durchaus noch verschlimmern.

Die Regierung führt immer wieder die vorzeitige Rückzahlung eines Teils der Rettungsschirmdarlehen und rekordverdächtig niedrige Zinsen bei der Ausgabe von Staatsanleihen ins Feld, ebenso wie die mit vierzehn Prozent relativ niedrige offizielle Arbeitslosenquote. Vorsicht beim Umgang mit Zahlen, warnt dagegen João de Sousa von der Hilfsorganisation AMI. Die Arbeitslosenstatistiken in Portugal seien durch eher nutzlose Fortbildungskurse geschönt und viele Arbeitssuchende hätten sich in ihrer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit einfach nicht mehr bei den Arbeitsagenturen gemeldet. Darum schätzt der portugiesische Gewerkschaftsverband CGTP die wirkliche Arbeitslosigkeit auf über 25 Prozent; dazu kommt noch ein ganzes Heer von Scheinselbstständigen, die viel zu wenig oder fast gar nichts verdienen.

Armes Land, arme Bürger

Selbst die, die arbeiten, haben nichts zu lachen: Der staatlich garantierte Mindestlohn von rund 430 Euro netto im Monat ist eher die Ausnahme, als die Regel. Vor allem die, die in Portugals stärksten Exportindustrien - dem Textil- und Schuhbereich - arbeiten, müssen damit über die Runden kommen. Kein Wunder, dass laut den jüngsten Zahlen des Statistikinstituts INE die Zahl der offiziell Armen auf 19 Prozent der Landesbevölkerung gestiegen ist. Rund zwei von zehn Millionen Portugiesen müssen mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens überleben. Wenn man bedenke, dass das schon vor der Krise extrem weitmaschig gewebte soziale Netz Portugals durch die Sparmaßnahmen fast völlig zerstört wurde, sei das katastrophal, klagt der AMI-Chef João de Sousa.

Portugal Hilfsorganisation AMI - João de Sousa
João de Sousa von der Hilfsorganisation AMIBild: DW/J. Faget

"Die sozialen Probleme, die die Sparpolitik gebracht hat, sind noch lange nicht gelöst", weiß auch die Wirtschaftsprofessorin Aurora Teixeira von der Universität Porto. Zwar habe die Regierung durch Arbeitszeitverlängerung, Lohnkürzungen und die Verringerung von Staatsausgaben inzwischen einen akzeptablen Staatshaushalt zu Stande gebracht, sehe die Wirtschaft endlich ein Licht am Ende des Tunnels. Aber die sozial Schwachen seien vom beispiellosen Sozialabbau, der ebenfalls stattgefunden habe, besonders hart betroffen.

Verzweiflung oder Hoffnung?

"Wir haben die Grenzen unserer Kapazitäten erreicht", stellt João de Sousa schulterzuckend fest. Die Armenküche seiner Organisation AMI in Portugals zweitgrößter Stadt Porto sei hoffnungslos überlastet. Reis und Kartoffeln und Konserven reichten nicht mehr für die gestiegene Nachfrage nach Nahrungsmitteln, die einmal im Monat an Bedürftige verteilt werden. In der Hauptstadt Lissabon und anderen Großstädten sei das nicht anders. Also ganz klar: die Krise sei noch lange nicht vorbei.

Portugal Essensausgabe in einer Armenküche in Porto (DW, Jochen Faget)
Essensausgabe in einer Armenküche in PortoBild: DW/J. Faget

Portugal habe über seine Verhältnisse gelebt. Viel mehr ausgegeben, als eingenommen, rechnet die Wirtschaftsprofessorin Aurora Teixeira gnadenlos vor. Doch das habe sich mittlerweile geändert. Wenn man den Schuldendienst bei Seite lässt, zeige der Haushalt inzwischen sogar ein klares Plus. Die Rosskur, die den Patienten fast umgebracht habe, sei also erfolgreich gewesen. "Es gibt wieder Hoffnung, die Talsohle ist durchschritten", meint Aurora Teixeira. Allerdings fehlten noch strukturelle Veränderungen: Portugal müsse mehr und besser produzieren, damit mehr Geld ins Land komme, dürfe sich nicht nur auf Dienstleistungen wie den Tourismus konzentrieren. Wie das jedoch bei den Hungerlöhnen, die portugiesische Unternehmen mittlerweile bezahlen, passieren soll, sagt die Wirtschaftsprofessorin nicht.

Armut oder Emigration

Und weil sie entweder schlecht bezahlt werden, oder überhaupt keine Festanstellung bekommen, gehen immer mehr gut ausgebildete junge Portugiesen ins Ausland. Über 100.000 haben seit Krisenbeginn jedes Jahr ihrer Heimat den Rücken gekehrt, sind nach Großbritannien, Frankreich oder Deutschland emigriert. Vor allem Akademiker wie Ingenieure und Wirtschaftler, aber auch Facharbeiter und Krankenpflegepersonal.

Weil die Regierung noch immer brutal spare, seien Portugals staatliche Polikliniken und Krankenhäuser inzwischen chronisch unterbesetzt, das Personal unterbezahlt, schimpft Guadalupe Simões von der Krankenpflegergewerkschaft: "Ich kann verstehen, dass junge Menschen nach einer Fachhochschulausbildung nicht für 700 Euro mit Zeitverträgen arbeiten wollen, wenn sie überhaupt einen Job finden. Also gehen immer mehr ins Ausland." Zurück bleiben die Alten und die Armen – und deren sowieso schon schlechte medizinische Versorgung werde im Rahmen der Sparmaßnahmen weiter abgebaut, stellt Guadalupe Simões fest.

Portugal Guadalupe Simões von der Krankenpflegergewerkschaft (DW, Jochen Faget)
Guadalupe Simões von der Gewerkschaft der KrankenpflegerBild: DW/J. Faget

Mehr Handlungsspielraum der Regierung

Genau diese Sparmaßnahmen jedoch haben Portugal wieder das Vertrauen der Märkte eingebracht, betont die Wirtschaftsprofessorin Aurora Teixeira. Darum könne das Land sich Geld zu Minimalzinsen knapp über zwei Prozent leihen und sogar einen Teil seiner Rettungsschirmschulden früher zurückzahlen. "Das gibt der Regierung mehr Spielraum", erklärt Aurora Teixeira. "Sie kann unabhängiger politische Schwerpunkte setzen." Erste Anzeichen für ein Ende der Sparpolitik gibt es bereits: Die Regierung hat einen kleinen Teil der Lohnkürzungen zurückgenommen, andere Maßnahmen dürften folgen. Schließlich ist 2015 Wahljahr in Portugal. Und die Bevölkerung hat lange genug gelitten.