Wer ist Swetlana Tichanowskaja?
8. August 2020"Ich bin keine Politikerin", so beschrieb Swetlana Tichanowskaja sich selbst bei einem Wahlkampfauftritt in Belarus (Weißrussland): "Ich möchte meine Familie zurückhaben und wieder Frikadellen braten!" Eine Hausfrau, die Hoffnungsträgerin wurde. Bei der Wahl am Sonntag gilt die 37-Jährige als die gefährlichste Herausforderin des autoritär regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko, der sich zum sechsten Mal im Amt bestätigen lassen möchte.
Tichanoswskaja ist zufällig Präsidentschaftskandidatin geworden. Eigentlich wollte ihr Ehemann, der oppositionelle Videoblogger Sergej Tichanowskij, Lukaschenko herausfordern, wurde aber früh gestoppt. Kurz vor dem Start der Wahlkampagne wurde Tichanowskij festgenommen - wegen seiner Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration am Anfang des Jahres. So konnte er nicht persönlich sein Wahlkampfteam anmelden und seine Ehefrau entschied sich damals spontan, selbst anzutreten.
Swetlana Tichanowskaja wurde überraschend zugelassen. Ihr Mann kam frei und leitete für ein paar Tage ihren Wahlkampf, bis er erneut festgenommen wurde. Seitdem sitzt der 41-Jährige in Untersuchungshaft. Die belarussische Justiz wirft ihm Gewalt gegen die Polizei vor, seine Mitstreiter sprechen von einer Provokation. Obwohl zunächst nur seine Stellvertreterin hat Sergej Tichanowskijs Ehefrau dagegen in rund zwei Monaten einen beispiellosen Aufstieg erlebt.
Eine Hausfrau wird Oppositionsführerin
Es ist nicht viel, was über die derzeit wohl berühmteste Frau von Belarus bekannt ist. Swetlana Tichanowskaja stammt aus einem Provinzstädtchen im Südwesten der früheren Sowjetrepublik, studierte Fremdsprachen und arbeitete als Übersetzerin in Homel, der zweitgrößten Stadt des Landes. Dort lernte sie ihren Ehemann kennen, wurde Mutter zweier Kinder und Hausfrau.
Für Politik habe sie sich nach eigenen Angaben nie interessiert. Ihr Ehemann Sergej Tichanowskij reiste viel im Inland - für seinen Videoblog, den er Anfang 2019 auf Youtube gestartet hatte. Als seine Begleiterin bei solchen Reisen habe sie viel über ihr Land und seine Leute gelernt, sagt Tichanowskaja.
Die Teilnahme einer politikfernen Außenseiterin an der Präsidentenwahl ist ein einmaliges Experiment. Es ist so, als müsste eine Hobby-Sprinterin innerhalb eines Monats einen Marathon bei Olympischen Spielen gewinnen, wobei man sie jederzeit sperren könnte. Doch die Vorbereitung ist erfolgreich abgeschlossen und die Neue hat sich unter den Favoriten gut behauptet.
Tichanowskaja sammelte die erforderlichen 100.000 Unterschriften für ihre Kandidatur und wurde zur Wahl zugelassen. Ihr Wahlkampfteam bekam Verstärkung von zwei politischen Schwergewichten, deren Kandidatur nicht zugelassen wurden: Ex-Bankers Viktor Babariko und der frühere Diplomat Walerij Zepkalo. Tichanowskajas Wahlveranstaltungen ziehen Zehntausende Teilnehmer an - ein historischer Rekord für weißrussische Verhältnisse, wo die Bevölkerung lange entweder politisch passiv war oder eingeschüchtert wurde. Dauerpräsident Lukaschenko nannte Tichanowskaja und ihre Unterstützerinnen "arme Mädchen".
Tichanowskajas Wahlprogramm wurde "im laufenden Betrieb" entwickelt. Sie hat nur ein paar Kernthesen, die wohl wichtigsten sind: Unabhängigkeit von Belarus, Freiheit für politische Häftlinge, auch für ihren Ehemann, und demokratische Neuwahlen innerhalb sechs Monaten nach dem Sieg. Danach will Tichanowskaja sich aus der Politik zurückziehen und wieder Hausfrau werden.
Eine Frau, die schnell lernt
Jetzt kann man beobachten, wie ein ganz gewöhnlicher Mensch eine ungewöhnliche Aufgabe bewältigt. Auf ihren Kundgebungen wirkte Tichanowskaja zunächst sehr unsicher, aber ehrlich und nicht verstellt - das kam offenbar gut an. Die politische Anfängerin lernte schnell, machte keine großen Fehler und tritt inzwischen selbstbewusster auf.
Bei für sie schwierigen Fragen zu Außenpolitik oder Wirtschaftsreformen räumt sie ein, keine Expertin zu sein. Sie meidet kontroverse Themen und schlägt zurück, wenn sie von Lukaschenko angegriffen wird. Auf die These des Präsidenten, nur wer in der Armee gedient hatte, könne Staatschef sein, reagierte sie mit einem Vorschlag, dass nur Mütter kandidieren dürfen sollen. Sie ließ sich bisher nicht einschüchtern und brachte nach einer anonymen Drohung ihre Kinder ins Ausland.
Der Wahlkampf von Tichanowskaja hat gezeigt, dass sich die weißrussische Gesellschaft offenbar unaufhaltsam verändert. Ihr Erfolg in einem Land, in dem alles unter Kontrolle zu sein schien, hat viele überrascht. Die Proteststimmung nach 26 Jahren Lukaschenkos Herrschaft scheint so groß, dass es vielen nicht so wichtig erscheint, wer neuer Präsident sein soll - Hauptsache es gibt einen Wechsel.
Momentan deutet vieles darauf, dass sich Lukaschenko doch halten könnte. Allerdings zweifeln Kritiker bereits jetzt an seinem möglichen Sieg und verweisen unter anderem darauf, dass es keine unabhängigen Wahlbeobachter geben wird. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), deren Berichte international als neutral geschätzt werden, wurde nicht eingeladen.