Vergangene Welt aufleben lassen
5. März 2013DW: Herzlichen Glückwunsch zur Buber-Rosenzweig-Medaille, die Ihnen am 3. März 2013 verliehen wird, und die besondere Verdienste um die Verständigung von Juden und Christen würdigt. Sie haben bereits einige Preise erhalten. Hat diese Auszeichnung, die Sie für Ihr literarisches und übersetzerisches Werk bekommen, für Sie eine besondere Bedeutung?
Mirjam Pressler: Ja natürlich hat sie das. Die Verständigung zwischen Christen und Juden ist für mich ein so wichtiges Thema, dass ich ganz glücklich darüber bin, dass ich diese Medaille kriege.
Warum ist diese Verständigung weiterhin wichtig?
Es ist für mich wichtig, diese vergangene Welt aufleben zu lassen, in der Juden einen großen und wichtigen Anteil an der deutschen Bevölkerung hatten. Und nicht nur die Erinnerung an den Holocaust, die Judenvernichtung, wach zu halten. Ich habe 2009 eine Biografie veröffentlicht über die Geschichte der Familie von Anne Frank ("Grüße und Küsse an alle", S. Fischer Verlag). Das waren wohlhabende Frankfurter Juden, sehr assimiliert. Ich habe hunderte von Briefen gelesen, die diese Familie geschrieben hat, und dabei ist mir wirklich klar geworden: Es gab eine Schicht in Deutschland, die völlig verloren gegangen ist. Das ist bis heute ein ganz großer Verlust. Und sie waren Deutsche. Was ich möchte, ist, zu betonen, dass es sie gab, dass sie dazugehörten, dass sie gewaltsam ausgelöscht wurden, und dass die Gesellschaft etwas sehr Wichtiges damit verloren hat.
Sie sind selbst Jüdin und waren mit einem Israeli verheiratet. Wie steht es heute um die Verständigung zwischen Juden und Christen in Deutschland?
Ich glaube, dass es eigentlich recht gut aussieht. Zumindest für die nichtfrommen Juden. Wir haben in Deutschland eine säkulare Gesellschaft, Religionszugehörigkeit spielt im Alltag keine Rolle. Ich selber habe eigentlich nie Schwierigkeiten, und die Juden, die ich kenne, kommen gut zurecht. Natürlich gibt es immer wieder dieses große Erschrecken wegen der Neonazis.
Als eines Ihrer Hauptwerke gilt die deutsche Übersetzung und kritische Bearbeitung der Tagebücher von Anne Frank, die 1945 von den Nazis ermordet wurde. Das Schicksal meist junger Juden in verschiedenen Epochen steht in Ihren Jugendbüchern oft im Vordergrund. Es geht aber auch allgemein um harte Kindheiten und Außenseiterfiguren. Können Sie sich vorstellen, dass diese schwierigen Themen auch mal keine jungen Leser mehr finden?
Das denke ich nicht, denn ich glaube, dass junge Leser sehr genau merken, wann es in Büchern und Geschichten um etwas Wichtiges geht und nicht nur um Belangloses. Deshalb gibt es auch immer wieder junge Leser, die sich gerade für die Zeit des Nationalsozialismus interessieren. Die so einschneidend war, die auch bis heute politische Auswirkungen hat. Im Übrigen schreibe ich meine Bücher nicht mit dem Gedanken darüber, was Jugendliche interessiert, sondern weil ich sie schreiben will. Ich gehe immer davon aus, wenn ein Thema mich interessiert, interessiert es einige andere auch. Und bisher hat das ja auch funktioniert. Ich hätte als Jugendliche Bücher über junge Außenseiter und ihre Schwierigkeiten sehr gerne gelesen, sie hätten mir geholfen. Wenn Kinder in einer schwierigen Lebenssituation Bücher lesen, deren Hauptfigur es ähnlich ergeht wie ihnen, dann wird es ihnen vielleicht helfen. Aber es wird zumindest anderen helfen, ein bisschen sensibel für die Situation von Mitschülern oder Freunden zu sein.
Seit fast 20 Jahren übersetzen Sie auch Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche und arbeiten mit einigen der erfolgreichsten israelischen Autoren wie Zeruya Shalev zusammen. Warum haben Sie mit der literarischen Übersetzungsarbeit aus dem Hebräischen angefangen?
Das wollte ich eigentlich gar nicht, weil aus dem Hebräischen zu übersetzen sehr viel zeitaufwändiger ist als aus einer europäischen Sprache. Hebräisch hat andere Strukturen und Sprachebenen. Mich hat ein Verleger dazu überredet. Er hat mir immer gesagt, es sei meine Pflicht und Schuldigkeit, weil ich Hebräisch kann. Es gab und gibt nicht so viele Übersetzer dieser Sprache. Darum hat er immer wieder auf mich eingeredet, bis ich gesagt habe 'also gut, ich übersetze ein Jugend- und ein Erwachsenenbuch und dann ist Schluss'. Das habe ich gemacht, danach war aber nicht Schluss.
Warum gab es in den 1980er Jahren so wenige literarische Hebräisch-Übersetzer: Lag es vor allem an der deutschen Geschichte und der Vernichtung der Juden während der Nazizeit?
Natürlich hat das mit dem Holocaust zu tun. Und damit, dass das Interesse an schriftlichen Zeugnissen und an Literatur aus Israel in der Bundesrepublik erst sehr spät entstanden ist. Die meisten sehr autobiografischen Bücher sind entstanden, als die Menschen, die sie geschrieben haben, schon alt waren - oder zumindest nicht mehr jung. In Israel hat man nichts davon hören wollen und in Deutschland auch nicht. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis man bereit war, diesen Menschen zuzuhören.
Wann oder wodurch hat sich das geändert?
In Israel war das der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961, ganz eindeutig. Danach wurde die Situation der Holocaust-Überlebenden aus Europa in Israel besser: Man hat sich für sie interessiert und sie aufgefordert zu erzählen. In Deutschland passierte das etwa gleichzeitig. Und ich denke, der Hauptgrund ist die Zeit, die vergangen war. Weil man in Deutschland nicht sofort auf die Idee kam, seine Eltern zu fragen: 'Was hast du während der Nazizeit gemacht?'. Die Zeit war nötig, um es nicht mehr so persönlich zu nehmen, später ging es dann um die Großeltern-Generation.
Wie ging es dann weiter mit der israelischen Literatur in Deutschland, gab es eine Renaissance?
Sicherlich. Zeruya Shalev ist ein Beispiel dafür, aber nicht das einzige. Es gibt zum Beispiel Aharon Appelfeld oder Schoschana Rabinovici. Ihr Buch "Dank meiner Mutter" halte ich für ein ganz wichtiges. Es handelt von einer Frau, die als Kind die Vernichtungslager der Nazis dank ihrer Mutter überlebt, und ihre Erinnerungen aufgeschrieben hat. Aber erst, als ihre eigenen Kinder schon erwachsen waren. Als es dann Interesse an Literatur aus Israel gab, fanden sich auch die Leute, um sie zu übersetzen. Heute gibt es in Deutschland vielleicht zehn Hebräisch-Übersetzer für Literatur - aber ich habe sie nicht gezählt. Es sind jedenfalls deutlich mehr als früher. Es gibt auch in Israel Übersetzer, die für deutsche Verlage arbeiten, aber die Hauptarbeit wird heute in Deutschland gemacht.
Wie wird sich Literatur von israelischen Autoren weiterentwickeln?
Es gibt in Israel nun Literatur, die überhaupt nichts mehr mit dem Holocaust zu tun hat. Die ist zum Teil sehr interessant und findet in Deutschland auch ihre Verlage. Hier ist ein Stück Normalität entstanden.
Mirjam Pressler (geboren 1940 in Darmstadt) ist Autorin und Übersetzerin von Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur. Sie wuchs als Kind bei Pflegeeltern und später in einem Heim auf. Die Probleme als Außenseiterkind verarbeitete sie später in einem Teil ihrer Bücher. Pressler ist Deutsche und Jüdin und lebte 1962 ein Jahr in Israel. Dort verbesserte sie ihr Hebräisch, das sie als Jugendliche gelernt hatte, deutlich. 1964 heiratete sie einen Israeli und bekam zwischen 1966 und 1969 drei Töchter. Bevor Pressler, die Kunst studiert hat, mit dem Schreiben anfing, betrieb sie unter anderem einen Jeansladen und arbeitete als Bürokraft. Bereits ihr erster Roman "Bitterschokolade" (1980) erhielt einen Kinder- und Jugendbuchpreis, zahlreiche weitere Auszeichnungen sollten folgen. Eine ihrer wichtigsten Arbeiten ist bis heute die deutsche Übersetzung und textkritische Bearbeitung der "Tagebücher der Anne Frank" - die weltberühmten Aufzeichnungen des jüdischen Mädchens, das 1945 von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Mirjam Pressler arbeitet weiterhin als Autorin und Übersetzerin und lebt in Landshut.