Proteste gegen Orbán-Land
28. März 2012Am Ende sah der Mann, der in seiner Heimat immerhin Holocaust und Stalinismus überlebt hatte, nur noch eine Möglichkeit: das Exil.
Anfang März beantragte der 79-jährige ungarisch-jüdische Schriftsteller Ákos Kertész in Kanada Asyl. In einer amerikanisch-ungarischen Wochenzeitung gab er eine kurze Stellungnahme ab: "Ich habe mich nur sehr schwer zu diesem Schritt entschlossen, denn die ungarische Sprache ist mein Leben. Ungarn ist mein Geburtsland, mein Zuhause. Ich hoffe, dass ich eines Tages in ein demokratisches, tolerantes und menschliches Ungarn zurückkehren kann." Seitdem schweigt der Schriftsteller.
Ein EU-Land, aus dem Künstler wegen politischer Motive emigrieren? Der Fall Ákos Kertész hat in Ungarn, aber auch im Ausland hohe Wellen geschlagen. Kertész´ in Berlin lebender Schriftstellerkollege György Dalos nennt ihn einerseits einen "tragischen Einzelfall", anderseits sei er ein "Ausdruck für den hohen Grad der Hysterie, die in der ungarischen Politik und Kultur herrscht".
Was war geschehen? Ákos Kertész hatte in den letzten Jahren zunehmend unter den nationalistischen, antisemitischen Tendenzen in Ungarn gelitten. Im August 2011 hatte er den Ungarn in einer wütenden Polemik kollektiv vorgeworfen, bis heute die Schuld am Holocaust zu leugnen. In dem – auch unter Freunden und Gesinnungsgenossen umstrittenen – Artikel hatte er unter anderem geschrieben: "Der Ungar ist genetisch untertan. Glücklich suhlt er sich im Schlamm der Diktatur, grunzt, schlingt den Fraß herunter und will nicht wahrhaben, dass man ihn abstechen wird. Er mag nicht lernen, nicht arbeiten, er kann nur neiden, und wenn er irgendwie in der Lage ist, mordet er denjenigen, der es mit Arbeit, Studium und Innovation zu etwas bringt, nieder."
Kritik als Landesverrat?
Drastische Worte. Aber sie sind prinzipiell nicht weit von dem entfernt, was viele Ungarn dem vermeintlichen magyarischen Nationalcharakter neben allerlei positiven Zügen selbstironisch andichten: einen angeblichen Hang zu Missgunst und Behäbigkeit. Dessen ungeachtet hatte der Artikel einen empörten, geradezu hysterischen Aufschrei Konservativer und Rechtsextremer zur Folge, das Thema beherrschte über Wochen hinweg die Medien. Kertész zog den am meisten inkriminierten Satz, der Ungar sei "genetisch untertan", zurück. Dennoch wurde ihm die Ehrenbürgerschaft Budapests entzogen, die Aberkennung von Staatspreisen war im Gespräch, die rechtsextreme Partei Jobbik, immerhin zweitstärkste politische Kraft im Land, verlangte eine Anklage wegen Landesverrats.
Ganze fünf Monate hielt es Kertész danach noch aus. Nach eigenen Angaben war er verbal und physisch immer wieder massiv bedroht worden, per Post, am Telefon, auf der Straße, in einem öffentlichen Heilbad. Nach seiner Ausreise riefen ihm Kommentatoren in der regierungstreuen Presse hämische Bemerkungen nach. "Wenn in der Regierung nüchtern denkende Menschen wären", sagt György Dalos, "dann würden sie einen Brief an Kertész schreiben und ihn zurück nach Ungarn rufen. Aber das tun sie nicht."
Radikaler ideologischer Umbau
Der Fall Kertész ist einer der größten kulturpolitischen Skandale, seitdem in Ungarn Ende April 2010 Viktor Orbán und seine Partei, der nationalkonservative "Bund Junger Demokraten – Ungarische Bürgerallianz" (Fidesz-MPP) die Wahlen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gewannen. Aber nicht der einzige. Orbán hat Ungarn machtpolitisch und ideologisch radikal umbauen lassen. Die Elite in Staat und Verwaltung wurde weitgehend ausgetauscht. Im Kulturbereich richtet sich der Umbau vor allem gegen die urbane, plurale Budapester Intellektuellen- und Kulturszene, aber auch gegen unabhängige Kultureinrichtungen außerhalb der Hauptstadt. Ganz offen propagieren Orbán und seine Partei seit ihrem Zwei-Drittel-Wahlsieg, dass sie die Dominanz der von ihnen als solche abgestempelten "Linksliberalen" in der Öffentlichkeit zurückdrängen wollen. Die Umstrukturierung der öffentlich-rechtlichen Medien und das Mediengesetz von Ende 2010 waren die ersten großen Aktionen in diesem Sinne. Laut dem Gesetz werden Journalisten der öffentlich-rechtlichen Medien in einer Vielzahl von Vorschriften dazu verpflichtet, ausgewogen, vor allem aber so zu berichten, dass die ungarische Nationalkultur und das nationale Bewusstsein gestärkt werden.
Aufkeimender Rassismus
Auch Kampagnen gegen kritische Äußerungen von Künstlern werden mit stillschweigender Billigung der Regierung immer wieder geschürt. Ähnlich schlimm wie letzten Herbst Ákos Kertész traf es im Januar 2011 beispielsweise den Pianisten András Schiff. Er hatte sich in einem Leserbrief an die Washington Post besorgt über das Anwachsen von Rassismus, Antiziganismus, Antisemitismus, Xenophobie und Chauvinismus in Ungarn geäußert. Der bekannte Rechtsaußen-Publizist Zsolt Bayer, ein Freund des Regierungschefs Viktor Orbán, schrieb daraufhin, Schiff sei ein geistiger Nachfahre ungarisch-jüdischer Bolschewiken aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und suggerierte anspielungsreich, es sei leider nicht gelungen, alle Vertreter dieser Geisteshaltung zu massakrieren.
Manchmal reicht es einfach, eine "Schwuchtel" zu sein. Zu einer solchen wird in rechten und rechtsextremen Medien seit langem Róbert Alföldi erklärt, der erfolgreiche Direktor des Budapester Nationaltheaters, der sich offen zu seiner Homosexualität bekennt. Mehrfach werteten Vertreter der Regierungsmehrheit seine Inszenierungen in Parlamentsdebatten als "unchristlich" und "unungarisch" und verlangten seine Absetzung. Im ungarischen Parlament nennen ihn Abgeordnete der rechtsextremen Jobbik-Partei regelmäßig "Róberta". Kein Abgeordneter, auch kein oppositioneller, stört sich daran.
Kulturpolitische Skandale
Der bisher wohl größte kulturpolitische Skandal in Orbáns Ungarn ging unter dem Namen "Philosophenprozess" in die zeitgenössische Geschichte ein. Anfang 2011 initiierte ein so genannter "Abrechnungsbeauftragter" der Regierung Ermittlungen gegen führende ungarische Philosophen, darunter auch gegen die heute 82-jährige Ágnes Heller, seit Jahrzehnten eine der bedeutendsten osteuropäischen Denkerinnen. Ihr und mehreren Kollegen wurde vorgeworfen, staatliche Forschungsgelder veruntreut zu haben. Die Vorwürfe sind längst in sich zusammengebrochen, doch vor einem Jahr führten regierungstreue Medien eine Hetzkampagne gegen die "linksliberalen Philosophen" und "Meinungsdeformierer" und erklärten sie bereits vorab für schuldig.
"Viele meiner Freunde verlassen Ungarn, ich gehe inzwischen wöchentlich zu Abschiedspartys", sagt die Budapester Kunstkritikerin Anna Bálint. "Manche gehen, weil sie materiell keine Chance mehr haben, andere wegen der allgemeinen Aussichtslosigkeit. Wenn man Kritik formuliert, wird man sehr schnell des Vaterlandsverrates, der Veruntreuung oder irgendwelcher anderer absurder Vergehen beschuldigt.“
Machtgier statt intellektuelle Auseinandersetzung
Ungarns oberster staatlicher Kulturpapst, Géza Szöcs, reagiert entnervt, wenn er solche Vorwürfe hört. Er amtiert im Ministerium für Nationale Ressourcen als Staatssekretär für Kulturangelegenheiten. "Die Intellektuellen und Künstler, die heute die Orbán-Regierung mit Vorwürfen überhäufen, wollen einfach nicht akzeptieren, dass sich ihre Situation geändert hat, dass sie nämlich keine Regierung mehr haben, deren Hofintellektuelle und -dichter sie sind", sagt Szöcs.
Das klingt denn doch nach recht simpler Macht- und Klientelpolitik, auch für den Schriftsteller György Dalos. "Ich würde für die Kulturpolitik der Orbán-Regierung nicht das Wort Kulturkampf benutzen", sagt er. "Es ist kein Kampf, sondern Zerstörung. Die einzige Idee scheint die Macht zu sein und dass sie möglichst viele Posten bekommen. Die Kultur, die Literatur, der Film, das Theater interessiert sie überhaupt nicht, sie sind nicht einmal Snobs."