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"Kurden kämpfen auch für andere Staaten"

Jeanette Seiffert11. Oktober 2014

Nihad Latif Qoja, Bürgermeister von Erbil, kritisiert die zögernde Politik der Türkei. Er fordert von Ankara, den Peschmerga-Kämpfern Zugang zu Kobane zu verschaffen - nur sie könnten den IS-Milizen Einhalt gebieten.

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Nihad Latif Qoja Bürgermeister von Erbil in Irak. Foto: Foto: DW/Shamal Sharef
Bild: DW/S. Sharef

Deutsche Welle: Herr Qoja, in welcher Form halten Sie derzeit Kontakt zu den Kurden in Kobane und wie sieht deren Situation im Moment aus?

Nihad Latif Qoja: Wir informieren uns über unsere kurdischen Medien, ich stehe aber auch in ständigem Kontakt mit unseren Freunden in Kurdistan. Die Lage ist im Moment sehr dramatisch, Kobane ist von zwei Flanken umzingelt. Die einzige Stelle, an der die Stadt noch zugänglich ist, ist die Grenze zur Türkei. Dort sind auch türkische Panzer stationiert, ohne aber einzugreifen.

Viele Militärexperten sind der Meinung, dass zumindest in Kobane die IS-Milizen ohne den Einsatz von Bodentruppen nicht aufzuhalten sind. Wie sehen Sie das?

Aus meiner Sicht würde es ausreichen, den Kurden den Zugang zu Kobane frei zu machen, damit die kurdischen Kämpfer zur Unterstützung in die Stadt gelangen können. Und wir brauchen massive Luftangriffe, um die Stellungen der IS-Milizen zu schwächen. Die Türkei tut das aber nicht. Sie betreibt im Moment eine unverständliche Politik, und wenn das so weiter geht, werden wir dort eine große menschliche Katastrophe erleben.

Die IS-Milizen sind ja in den vergangenen Wochen auch weit in den Nordirak vorgedrungen: Können sich die Kurden in der Region Erbil denn derzeit sicher fühlen?

In Kurdistan können die Menschen sich absolut sicher fühlen. Seitdem die Alliierten vor einigen Wochen Stellungen des IS bombardiert haben, sind die Peschmerga-Truppen in der Lage versetzt worden, die Terroristen so weit zurückzudrängen, dass die Städte im Norden jetzt sicher sind. Der IS ist mittlerweile sehr geschwächt und hat die meisten Stellungen dort wieder verloren.

Karte IS-Vormarsch an der türkischen Grenze. Grafik: DW.

Sollten aus Ihrer Sicht die irakisch-kurdischen Peschmerga-Kämpfer den Kurden an der türkisch-syrischen Grenze zu Hilfe kommen?

Die Peschmerga haben im Moment keinen Zugang zu Kobane, das etwa 80 Kilometer vom Osten Kurdistans entfernt ist, und dazwischen liegen arabische Gebiete. Die einzige Möglichkeit wäre, dass die Türkei uns erlaubt, Peschmerga dorthin zu schicken, um Kobane zu verteidigen.

Sie haben in den vergangen Tagen immer wieder gefordert, die Türkei müsse militärisch eingreifen. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die Türkei den Kampf gegen IS als Vorwand nutzen könnte, gegen die Kurden vorzugehen?

Wir verlangen ja nicht, dass die Türkei diese Gebiete angreift. Die Türkei sollte entweder die Grenze für die kurdischen Kämpfer aufmachen, die aus anderen Teilen Kurdistans kommen - oder aber sie lässt den Kämpfern in Kobane militärische Hilfe zukommen. Natürlich sollte diese Hilfe von der internationalen Gemeinschaft abgesichert werden. Meine Angst ist, dass die Türkei eine Politik betreibt, die darauf abzielt, Kobane zu opfern, um innenpolitische Ziele zu erreichen. Die türkische Regierung könnte bezwecken, die Kurden in ihrem Land zu schwächen - und natürlich auch die Kämpfer der PYD, der kurdischen Partei in Syrien, die der PKK nahesteht.

Was bedeutet der derzeitige Konflikt für den Friedensprozess der Türkei und der PKK? Hält der Waffenstillstand oder rüstet sich die PKK schon für eine neue Auseinandersetzung?

Wenn die Haltung der Türkei so bleibt, wie sie jetzt ist, könnten die Friedensverhandlungen in große Gefahr kommen. Wir hoffen alle, dass man eine Lösung findet und diese Verhandlungen fortgeführt werden können. Abgesehen davon, wie die Türkei zur PKK und zur PYG steht, geht es hier aber um das Leben von Tausenden Menschen, die in Kobane wohnen. Und die Kurden kämpfen gegen die IS-Milizen schließlich auch einen Kampf für andere demokratische Staaten - sie sind die einzigen, die tapfer gegen sie stehen.

Kurden-Demonstration gegen IS-Terror am 11.04.2014. Foto: Roland Weihrauch/dpa
Kurden in Düsseldorf demonstrieren gegen den IS, aber auch für PKK-Chef ÖcalanBild: picture-alliance/dpa/R. Weihrauch

Ich würde gerne noch auf einen innerdeutschen Aspekt zu sprechen kommen. Sie halten sich derzeit selbst in Bonn auf und haben sicherlich mitbekommen, dass es in vielen Städten zu Zusammenstößen zwischen Kurden und Islamisten kommt, oft ist auch Gewalt im Spiel. Was raten Sie den in Deutschland lebenden Kurden, wie sollten sie sich verhalten?

Ich rate meinen Landsleuten, friedlich zu demonstrieren. Wir dürfen die Sicherheit und den Frieden hier nicht in Gefahr bringen. Das sind unsere Gastländer und wir sind dankbar für die Unterstützung durch diese Staaten. Mich macht aber eine andere Sache sehr unruhig: Wie kann es sein, dass Salafisten oder andere Islamisten in Deutschland oder in anderen europäischen Ländern diese Freiheit haben, hier ihre verbrecherische Meinung so offen auszudrücken, die darauf abzielt, andere Menschen aufzuhetzen oder umzubringen? Das ist mir unerklärlich.

Sehen Sie denn die Gefahr, dass die Kurden ihrer eigenen Sache womöglich schaden, wenn der Druck auf der Straße zu groß wird?

Deshalb ist es so wichtig, dass es auf diesen Veranstaltungen absolut friedlich bleibt. Wir müssen unser Anliegen besser verkaufen, denn im Grunde weiß jeder, dass wir auf der Straße nur unser Recht verteidigen. Aber sobald Ordnung und Frieden der Menschen in Deutschland in Gefahr sind, sollten wir das vermeiden.

Nihad Latif Qoja ist Bürgermeister von Erbil, Hauptstadt des kurdischen Gebiets im Irak und Sitz der autonomen Region Kurdistan. 1981 war der ehemalige Sportlehrer vor dem Saddam-Regime nach Deutschland geflohen und lebte mehr als zwei Jahrzehnte lang in Bonn. Dort war er unter anderem in der irakischen Oppositionsbewegung aktiv, bis er 2004 in seine Heimat zurückkehrte.

Das Interview führte Jeanette Seiffert.