Qual der Wahl für drei Millionen Erstwähler
10. September 2017Die CDU macht auf cool: In einem heruntergekommenen Altbau in einem Berliner Szeneviertel präsentiert sie ihr Wahlprogramm zum Anfassen - mit digitalen Videowänden und einem riesigen roten Herz, das symbolisch im Takt der deutschen Wirtschaft schlägt. "Total anschaulich und supermodern", findet Cheyenne Turner das begehbare Wahlprogramm.
Neugierig streift die Berliner Schülerin durch einen Raum voller Pappkartons, auf denen Schlagworte zur Familienpolitik stehen. Sie ist vor kurzem 18 geworden und darf am 24. September zum ersten Mal wählen - so wie drei Millionen andere junge Deutsche. Aber wen? Sie habe sich noch nie richtig mit Politik beschäftigt, erzählt die Gymnasiastin, weder in der Schule noch privat. "Ich finde es echt schwierig, mich zu entscheiden."
Generationenkluft in der Politik
So geht es vielen jungen Wählern - und deshalb bleiben auch viele von ihnen den Wahllokalen fern. Politik wird in Deutschland überwiegend von Menschen gemacht, die zwischen 50 und 70 Jahre alt sind. "Für die Politik der Älteren interessieren sich die jungen Leute nicht sehr stark", erklärt Professor Klaus Hurrelmann, einer der renommiertesten Jugendforscher Deutschlands.
Das drückt sich auch in der Wahlbeteiligung aus: Während es die über 50-Jährigen geradezu an die Wahlurnen zieht, halten sich die jungen Wähler viel stärker zurück. Woran liegt es, dass ihre Wahlbeteiligung gut zehn Prozent unter dem Durchschnitt liegt? Sie hätten das Gefühl, erklärt Sozialwissenschaftler Hurrelmann, dass das politische Gemeinwesen auch ohne ihr Mitwirken funktioniere. Die Haltung dahinter sei folgende: "Wieso soll ich mich an einer Wahl beteiligen, wenn ich gar nicht weiß, was ich damit bewirke, wenn ohnehin schon alles feststeht?" Die Parteien würden von den Jugendlichen zwar nicht missachtet, sehr wohl aber aus der Distanz betrachtet.
Weckruf Brexit-Votum
Häufig bezweifeln junge Leute, dass ihre Stimme tatsächlich einen Unterschied macht. Wohin das führen kann, zeigte sich in Großbritannien bei der Abstimmung über den Brexit: Die Jüngeren, die mehrheitlich für den Verbleib Großbritanniens in der EU waren, blieben der Abstimmung teilweise fern und überließen das Feld somit den (älteren) Brexit-Befürwortern. Das habe auch in Deutschland zu einem Umdenken geführt, stellt Hurrelmann fest. Seither würden sich die jungen Wähler nicht mehr so bequem zurücklehnen und das Feld den "alten Hasen" überlassen.
Mehr Parteieintritte
Inzwischen treten auch wieder mehr junge Leute in die Parteien ein, obwohl das Durchschnittsalter dort bei etwa 60 Jahren liegt. So wie Louisa Hattendorff. Die 19-Jährige engagiert sich seit einem Jahr bei der Grünen Jugend und ist inzwischen auch Mitglied der Grünen geworden. Was andere Jugendliche langweilig finden, sieht sie als Chance: Sich mit anderen zusammen zu tun und etwas zu bewegen. "Ich habe gelernt, zu hinterfragen, meine eigene Meinung zu haben." Die Mitarbeit in einer Partei hält sie "für den direktesten Weg, auf Politik Einfluss zu nehmen". Von Gleichaltrigen bekomme sie oft zu hören, das bringe doch alles gar nichts, erzählt die Jura-Studentin, die am 24. September ebenfalls zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl ihre Stimme abgibt. "Aber allgemein nehme ich meine Generation als doch sehr politisch wahr."
"Raus aus der Schmuddel-Ecke"
Diese Beobachtung teilt Jugendforscher Klaus Hurrelmann: Dass neuerdings wieder viele junge Leute unter 30 in die Parteien eintreten, findet er "überraschend und bemerkenswert". Das habe es in Deutschland sehr lange nicht gegeben. Noch ist aber nicht klar, ob es nur eine vorübergehende Welle oder ein dauerhafter Trend ist.
In jedem Fall aber liege für die Parteien darin eine Chance: Sie müssten jetzt klarer herausstellen, warum es sich lohne, bei ihnen Mitglied zu sein. "Was nützt mir das?" sei eine Frage, die Jugendliche in einer Welt mit vielen Optionen sehr beschäftige. An diesem Punkt, meint der Jugendforscher, könnten die Parteien ruhig stärker Werbung für das machen, was sie jungen Leuten vermitteln könnten - von rhetorischen Fähigkeiten bis hin zur Karriereförderung. "Das muss den Charakter von Anrüchigkeit und fast schon von Korruption verlieren", sagt der Berliner Sozialwissenschaftler, "denn da sind die jungen Leute sehr empfindlich". Die Parteien müssten "aus der Schmuddel-Ecke herauskommen".
"Generation Merkel"
Welchen Effekt hat es auf die jungen Wähler, dass sie eigentlich nur eine Kanzlerin kennen - Angela Merkel? Die 19-jährige Louisa Hattendorff stört vor allem, dass Merkel ihre Politik als "alternativlos" verkaufe - das schade der demokratischen Streitkultur. Das Gefühl vieler Jugendlicher, "ohnehin nichts ändern zu können", habe seine Ursache auch in der langen Regierungszeit der Kanzlerin.
Auch Jugendforscher Hurrelmann sieht hier ein Dilemma. Zwar schätzten junge Leute die politische Stabilität und die wirtschaftlichen Erfolge Deutschlands und schrieben sie auch der Kanzlerin positiv zu. Sie rebellierten also nicht gegen die bestehenden Strukturen, hielten sich im Zweifelsfall aber eher aus der Politik heraus, da das Feld ja bereits bestellt sei. "Ganz lange darf dieser Zustand - von den demokratischen Strukturen her gedacht - nicht anhalten, denn er schläfert die Parteien ein und zementiert diese Generationskluft, die wir haben."
Parteien könnten mehr tun
Noch tun die deutschen Parteien sich schwer damit, auf junge Leute zuzugehen, ihnen attraktive Möglichkeiten der Mitarbeit anzubieten. "Ich will nicht erst bei fünf Bundestagswahlen Plakate aufhängen müssen, bis ich mich trauen darf, auf ein Amt zu kandidieren", beschreibt Louisa Hattendorff die gängige Mühsal von Parteiarbeit. Auch Erstwählerin Cheyenne Turner fühlt sich von den Parteien nicht gerade abgeholt. "Als Jugendlicher wird man nie so richtig angesprochen oder auf Politik aufmerksam gemacht", sagt die 18-jährige Schülerin. Bisher fühlte sie sich eher ausgeschlossen von der Politik, jetzt muss sie sich für eine Partei entscheiden.
Um sich zu informieren, wünscht sich Cheyenne Turner mehr Orte wie das begehbare Wahlprogramm der CDU. Auf keinen Fall möchte sie sich die Meinungen von Familienmitgliedern oder Freunden "aufschwätzen lassen". Anders als viele Gleichaltrige will sie auf jeden Fall wählen gehen, "weil nur so die Demokratie funktioniert". Es habe außerdem den Vorteil, dass man als junger Mensch dann auf einer Augenhöhe mit den Älteren über Politik reden könne - und bei diesem Thema endlich ernst genommen werde.