"Iceman": Ötzi auf der Piazza Grande
8. August 2017Es ist heiß in Locarno. An den Filmabenden auf der Piazza Grande, dem zentralen Veranstaltungsort und Herzen des Schweizer Festivals, wird es in der Dämmerung nur unmerklich kühler. Die Zuschauer schauen skeptisch auf bedrohliche Wolkentürme und rechnen sich aus, ob der Film am Abend gezeigt wird oder die Vorstellung ins Wasser fällt. Kurzum: Die Natur ist Teil des Kinoerlebnisses. Wenn es trocken bleibt, richten sich in der Dämmerung 8000 Augenpaare auf die Leinwand. Für Schauspieler und Regisseure ist das ein besonderes Erlebnis. Zwei deutsche Filme stellen sich dieses Jahr dem Votum des Piazza-Grande-Publikums: Beide spielen in der rauen Bergwelt.
Der Ötzi bekommt eine Geschichte
Regisseur Felix Randau ("Die Anruferin") hat sich der Geschichte des berühmten Steinzeitmanns Ötzi angenommen. Wobei, was heißt schon Geschichte? Ötzi ist die älteste Mumie der Welt, 5300 Jahre alt. Aber über sein Leben weiß man in Wirklichkeit sehr, sehr wenig. Auch wenn die Genanalyse ein paar kuriose Fakten offenlegte: Aber ob Ötzi nun laktoseintolerant oder mit Borreliose infiziert war und eine Herz-Kreislaufschwäche hatte, ist für eine filmische Umsetzung fast genauso unwichtig wie die wissenschaftlichen Theorien über das Leben der prähistorischen Mannes.
Rache allein reicht nicht
Die Story, die der in Berlin lebende Regisseur Felix Randau in "Der Mann aus dem Eis" (Iceman) entwirft, ist die Geschichte eines Rachefeldzugs und einer Läuterung. Und wenn es auch stellenweise seinen Reiz hat, Jürgen Vogel als bärtigen Urzeitmenschen im emotionalen Ausnahmezustand zu erleben - da ist zu wenig Inhalt, um den Film über 90 Minuten zu retten. Rachegeschichten erzählen - das hat Quentin Tarantino zum Genre erhoben und daran müssen sich neue Filme messen lassen. Bei Randaus "Iceman" fehlen allerdings die innovativen Ansätze.
Urzeitliche Dialoge
Ursprünglich wollte der Regisseur komplett ohne Sprache arbeiten, griff dann aber zu einer Art urzeitlicher universeller Lautsprache, angelehnt ans Rätische. "Ich finde nichts lächerlicher als einen Römerfilm anzusehen, in dem die Leute geschliffenes Oxord-Englisch sprechen", sagte Randau im Gespräch mit der DW. Das ist zwar mutig. Aber nicht mutig genug, auch wenn das Ansinnen des Regisseurs, der auch das Drehbuch verfasst hat, durchaus löblich ist. "Viele Leute halten Urzeitmenschen für eine Art Halbaffen", stellte der 43-Jährige bei seinen Vor-Recherchen fest. "Jürgen Vogel war meine Wunschbesetzung: Er ist ein sehr physischer Typ, strahlt aber gleichzeitig Wärme und Intelligenz aus." Doch während des Films hofft man immer wieder, Jürgen Vogel möge endlich mit breitem Zahnlückengrinsen einen flapsigen Spruch raushauen, um dem musealen Höhlenzeit-Szenario zu entkommen.
Beklemmendes Drama: Drei Zinnen
Beklemmende Szenen am Berg gab es auch beim zweiten deutschen Beitrag auf der Piazza Grande. In "Drei Zinnen" macht eine Frau (Bérénice Bejo) mit ihrem neuen Partner und ihrem Sohn ein paar Tage Urlaub in einer entlegenen Berghütte. In diesem Setting erarbeitet Regisseur Jan Zabeil ("Der Fluss war einst ein Mensch") präzise das emotionalen Dilemma von Stiefvater und Stiefsohn. In ruhigem Tempo und mit genauem Blick beleuchtet der Regisseur die schwierigen Gefühlen der beiden. Sie lassen den Zuschauer mehrfach erschauern, ohne dass der Film je in ein Horrorfilmszenario abdriftet. Jan Zabeil gelingt die Gratwanderung.
Loyalitätskonflikte in Patchworkfamilien
"Mir geht darum dass man diese Konstellation - Stiefvater und Stiefkind - überhaupt mal sieht. Patchwork heißt eben nicht, das ist alles schön und bunt, oder es ist die totale Katastrophe und das konservative Modell ist doch besser", so Zabeil gegenüber der DW." Ich will die Probleme, die Konsequenzen zeigen; die kommen können, auch wenn sich alle Mühe geben und die besten Absichten haben." Das gelingt dem 36-Jährigen nicht zuletzt dank der Schauspieler: Der achtjährige Arian Montgomery kann in beeindruckender Weise mit dem Spiel von Alexander Fehling mithalten. Und die sorgfältig inszenierte Bergkulisse des dreizackigen Gebirgsstocks in den Südtiroler Alpen tut ein Übriges, um den Figuren ihre wahren Gefühle, auch die unschönen, zu entlocken. Dass Kinder auch böse sein können - welche Eltern hätten es nicht geahnt?
"Freiheit": Johanna Wokalek als getürmte Frau
Der einzige deutsche Film im Hauptwettbewerb um den Goldenen Leoparden ist in diesem Jahr "Freiheit" von Regisseur Jan Speckenbach. Und der polarisiert ganz schön. Johanna Wokalek spielt Nora, die ihren Mann und zwei Kinder scheinbar grundlos verlässt und sich treiben lässt: von Berlin nach Wien und schließlich nach Bratislava. Die Geschichte präsentiert sich als eine Art filmisches Triptychon, das zwischen Noras Leben und dem ihres verlassenen Mannes hin- und herspringt und erst kurz vor Schluss den Ausgangspunkt der Geschichte zeigt. Die Freiheit des einen wird zur Unfreiheit des anderen.
Die Freiheit der Bürgerlichen
Für Regisseur Jan Speckenbach ist das Projekt eine Annäherung, ein filmisches Sinnieren über Freiheit. "Bei uns wird Freiheit oft als finanzielle Unabhängigkeit verstanden, und das ist schon symptomatisch", sagt er über seinen Antrieb für den Film. "Mir ist es ein Anliegen, diese Fragen aufzuwerfen. Wir haben die Flüchtlingskrise erlebt, all die Menschen die wirklich um ihr Leben kämpfen", so der 47-Jährige, "Vielleicht müssen wir uns wirklich besinnen, was wir alles erreicht haben im Westen, und wie viel wert es uns ist, dafür zu kämpfen."
Der Regisseur mag seine Hauptfigur. "Ihr geht es um die Suche, damit sympathisiere ich." Das geht dem Zuschauer nicht unbedingt auch so. "An der Figur scheiden sich die Gemüter: Die einen mögen sie sehr, andere halten sie für eine blöde Kuh. Die Urteile fallen meist sehr radikal aus", fasst Speckenbach erste Reaktionen zusammen. Diese Provokation ehrt den Film, auch wenn die über allem wabernde Frage "Was - verdammt - will diese Frau eigentlich?" einen über kurz oder lang etwas aggressiv stimmen kann. Die Bilder sind sorgfältig inszeniert, poetische Lichtspiele und Szenen an der Donau lassen über deftige Sexszenen, die zwar provozieren, aber inhaltlich kaum weiterbringen, gnädig hinwegschauen.
Filme der neuen Bürgerlichkeit?
Obwohl sich die zeitliche Spanne der drei Filme über 5.300 Jahre erstreckt, bleibt das Gefühl, dass sie der Feder der gleichen - sehr bürgerlichen - Generation entspringen. Irgendwie befreit, aber irgendwie trotzdem gefangen. Der deutsche Film hält beim Filmfest Locarno auch 2017 seinen guten Stand. Zu wünschen wäre ihm aber mehr Diversität. Und Mut zu noch mehr Radikalität, formal wie inhaltlich.