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Radikale oder "normale" Klimaproteste - was bewegt Twitter?

Serdar Vardar | Rodrigo Menegat Schuinski
23. April 2023

Klimaaktivisten der "Letzten Generation" oder von "Extinction Rebellion" sind bekannt für ihre Störaktionen. Doch wie viel Aufmerksamkeit verursachen solche Protestformen? Die DW hat dazu Millionen von Tweets untersucht.

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DW-Grafik mit Symbolen für radikalen und gemäßigten Klimaprotest
Sitzblockaden, Suppe auf Kunstwerken oder Greta Thunbergs Reden - was löst die meisten Reaktionen aus?Bild: DW

Die "Letzte Generation" will Berlin "lahmgelegen"  und ist seit einigen Tagen verstärkt aktiv in der Hauptstadt. Bereits am Wochenende hatten Aktionen der Klimaschutzaktivisten zu Staus und Behinderungen auf Berlins Straßen geführt. In London wiederum hatten Klimaaktivisten der Gruppe Extinction Rebellion (XR) für das Wochenende zu einem massiven Klimaprotest vor dem britischen Parlament aufgerufen - genannt: "The Big One".

Das ist ein überraschender Taktikwechsel, war die Gruppe doch bislang vor allem für Aufmerksamkeit erregenden zivilen Ungehorsam bekannt, wie dem Überschütten von Gemälden mit Suppe oder dem Festkleben von Aktivisten auf öffentlichen Straßen.

Dieser Art des Protests, der den Alltag stören soll, hat sich unter anderen auch die in Großbritannien ansässigen Gruppe Just Stop Oil angeschlossen. So bewarfen zwei Klimaschützerinnen der Gruppe im Oktober 2022 Vincent van Goghs berühmtes Sonnenblumengemälde von 1888 in der Londoner National Gallery mit Tomatensuppe. Das Kunstwerk war durch Glas geschützt, beschädigt wurde lediglich der Rahmen.

"Als Phoebe und ich diese Suppe geworfen haben, haben mehr Menschen über die Klimakrise gesprochen, als zu dem Zeitpunkt, als 33 Millionen Menschen durch die Überschwemmungen in Pakistan vertrieben wurden", sagt Anna Holland, eine 21-jährige Aktivistin von Just Stop Oil der Deutschen Welle (DW). "Und das ist ein solider Beweis dafür, dass störende Aktionen unglaublich effektiv sind."

Aber sind sie das wirklich mehr als herkömmliche Protestformen wie etwa Klima-Demonstrationen?

Radikale oder gemäßigt - über welchen Klimaprotest wird mehr gesprochen?

Um das herauszufinden, hat die DW 4,6 Millionen Einträge auf Twitter analysiert, die von 30 großen englischsprachigen Nachrichtenkanälen veröffentlicht wurden. Betrachtet wurde der Zeitraum zwischen dem 20. August 2018 - als die schwedische Klimaaktivistin und Initiatorin der Bewegung Fridays for Future, Greta Thunberg, ihren Klima-Schulstreik begann - und dem 20. Februar 2023.

Untersucht wurden insgesamt 2483 Nachrichten-Tweets, in denen Proteste zum Thema Klima und Umwelt erwähnt wurden. Anschließend wurde das Maß an Interaktion - in Form von Antworten, Zitaten, Likes und Retweets - mit dem Interaktionsmaß von anderen Tweets verglichen, die von derselben Nachrichtenorganisation in derselben Woche veröffentlicht wurden.

Die Analyse zeigt deutlich die medialen Zyklen der Klimaberichterstattung: Das Volumen an Tweets über Klimaproteste steigt während offizieller Foren, Gipfeltreffen und globaler Veranstaltungen wie den Klimakonferenzen der Vereinten Nationen (UN) oder dem Weltwirtschaftsforum.

Die mediale Berichterstattung ist entscheidend für ein Thema

So wurden die meisten Tweets zum Thema Klimaaktivismus in der Woche des UN-Klimagipfels im September 2019 gepostet. Insgesamt waren es 167, von denen sich viele auf das berühmte Zitat "wie könnt ihr es wagen?!" von Greta Thunberg bezogen. Mit diesen emotionalen Worten hatte Thunberg in ihrer Rede die Staats- und Regierungschefs der Welt für das "Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum" gerügt.

Fast die Hälfte der Tweets, die sich auf dieses Ereignis bezogen, gehörte zu den beliebtesten Tweets, die von den jeweiligen Nachrichtenkanälen in dieser Woche veröffentlicht wurden. Ähnliche Muster zeigten sich bei Ereignissen wie dem Weltwirtschaftsforum und weiteren UN-Klimakonferenzen. Während solcher Großereignisse zieht das Thema Klimaaktivismus in der Regel die meiste Aufmerksamkeit der Medien auf sich.

"Der Zeitpunkt scheint viel wichtiger zu sein, als wir dachten", sagt James Ozden vom Social Change Lab. Die in London ansässige Organisation untersucht soziale Bewegungen, um Wege zur Förderung eines positiven sozialen Wandels zu finden. "Wenn sich die Medien mit dem Thema beschäftigen, ist es viel einfacher, Aufmerksamkeit für die entsprechende Botschaft zu bekommen."

Radikaler Klimaprotest erzeugt nicht die meiste Aufmerksamkeit

Obwohl Klimaproteste nur einen kleinen Teil der Tweets ausmachen, die von Nachrichtenkanälen veröffentlicht werden, rufen sie unverhältnismäßig viel Interaktion hervor. Oft gehören sie zu den erfolgreichsten Tweets der Woche. Ein Drittel der Tweets über Klimaaktivismus gehörte zu den zehn Prozent der erfolgreichsten Tweets der jeweiligen Kanäle.

Klimaproteste lassen sich in zwei Kategorien einteilen: in Proteste mit Störaktionen des öffentlichen Lebens und in Proteste ohne solche Aktionen.

Erstere, zu denen etwa die Verunstaltung von Kunstwerken, Verkehrsbehinderungen oder die Stürmung öffentlicher Gebäude gehören, machten 33 Prozent der Tweets zu Klimaprotesten aus. Zu den nicht störenden Aktionen gehören etwa die Teilnahme von Aktivisten an offiziellen Veranstaltungen, öffentliche Reden und legale Kundgebungen. Tweets über solche Ereignisse machten 67 Prozent aller Tweets über Klimaproteste aus.

Vergleicht man die durchschnittlichen Interaktionsraten der beiden Kategorien, zeigt sich: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tweet besonders erfolgreich ist, ist doppelt so hoch, wenn er sich um Klimaproteste ohne Störaktionen dreht.

Dies zeigt: Geht es darum, Diskussionen auf Twitter zu entfachen, sind Störaktionen nicht effektiver als "normale" Aktionen, wie etwa Demonstrationen.

"Herkömmliche Klimaproteste funktionieren, wenn die mediale Berichterstattung den Klimawandel bereits ein wenig in den Fokus genommen hat. Der Protest mit Störaktionen, wie etwa das Suppenwerfen, funktioniert dann, wenn die Medien über andere Themen berichten und sich der mediale Fokus erst dadurch auf den Klimawandel richtet", sagt Ozden vom Social Change Lab.

Wie reagieren Twitter-User auf radikale, und wie auf  "normale" Klimaproteste?

Viele Aktivisten, die an Störaktionen beteiligt waren, werden in den sozialen Medien dafür kritisiert, dass sie ihrem eigenen Image schaden. Doch sie selbst sehen das nicht unbedingt so.

"Für mich ist es wichtig, dass die Regierung keine neuen Öl- und Gaslizenzen in Großbritannien vergibt. Das Einzige, was mir wichtig ist, ist eine Zukunft, in der ich Kinder großziehen kann und mich nicht schuldig fühle, weil ich sie in eine Zukunft voller Tod, Hunger und Krieg gebracht habe", sagt Anna Holland von Just Stop Oil.

Um zu verstehen, wie Menschen auf Tweets über Klimaproteste reagieren, wählte die DW die Tweets mit den höchsten Interaktionen aus - und zwar zu Protesten mit Störaktionen, zu Protesten ohne Störaktionen sowie eine zufällige Stichprobe von Tweets zu verschiedenen Themen, um einen Vergleich zu ermöglichen. Alle Antworten auf diese Tweets wurden als "negativ" oder "positiv" eingestuft.

Die Ergebnisse zeigen, dass zwar viele Menschen negativ auf Tweets zu Klimaprotesten reagieren, dass dies aber auch für Tweets zu anderen Themen gilt.

Außerdem erhalten Tweets über Störaktionen etwas mehr negative Antworten, aber die Spanne ist gering. Insgesamt sind die Antworten auf Tweets über Klimaproteste nicht so negativ wie die Antworten auf Tweets über andere Themen.

Sind radikale Proteste hilfreich oder hinderlich für die Klimabewegung?

Obwohl Proteste mit Störaktionen in der Twitter-Sphäre kein Mehr an Zugkraft erzeugen, können unkonventionelle Gruppen den gesamten Klimaaktivismus durch das beeinflussen, was die Wissenschaft die Theorie der radikalen Flanken nennt.

"Diese Theorie besagt, dass eine extremere Protestbewegung einen positiven oder negativen Effekt auf gemäßigte Gruppen innerhalb derselben Bewegung haben kann", so Brent Simpson, Sozialpsychologe an der Universität von South Carolina.

Seine neuesten Forschungsergebnisse, die von der Oxford University Press veröffentlicht wurden, deuten darauf hin, dass Aktivistengruppen, die extreme Taktiken anwenden, andere Gruppen der Klimabewegung attraktiver erscheinen lassen - also diejenigen, die einen gemäßigten Ansatz verfolgen. Infolgedessen steigt die öffentliche Unterstützung für die gemäßigten Gruppen.

Polizisten halten Demonstranten während einer Demonstration in Großbritannien zurück, die unter dem Motto "Kill the Bill"
Unter dem Motto "Kill the Bill" wurde 2021 in Großbritannien gegen längere Gefängnisstrafen und Geldstrafen für Aktionen bei Demonstrationen protestiertBild: Toby Melville/REUTERS

Das Social Change Lab von James Ozden führte ähnliche Untersuchungen in Großbritannien durch und stellte fest, dass nach den viertägigen Autobahnprotesten von Just Stop Oil in London die Unterstützung und Identifikation mit der gemäßigten Umweltgruppe Friends of the Earth (auf Deutsch: Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, BUND) zunahm.

Einige Forschenden weisen auf die Gefahr hin, dass Aktionen der radikalen Gruppen zu stärkeren staatlichen Repressionen gegenüber der gesamten Klimabewegung führen könnten. "Wir haben das in Großbritannien mit der neuen Gesetzgebung gesehen. Sie sieht längere Gefängnisstrafen und Geldstrafen für Aktivisten mit gewaltlosen Straftaten auf Kaution vor", erzählt Ozden.

Indigo Rumbelow, Aktivistin bei Just Stop Oil, hält dennoch den Fortbestand beider Ansätze für notwenig, um das Bewusstsein für die Dringlichkeit für mehr Klimaschutz zu schärfen. "Proteste mit und ohne Störaktionen stehen nicht im Gegensatz zueinander", meint sie. "Es gibt tatsächlich eine Synergie zwischen ihnen und sie beflügeln sich gegenseitig".

Während also Aktivistengruppen wie Just Stop Oil oder die deutsche Letzte Generation weiterhin den Alltag stören wollen, hofft Extinction Rebellion, dass ihr Big-One-Protest in London seinem Namen gerecht wird: Die Gruppe rechnet mit rund 100.000 Menschen, die an der friedlichen Demonstration teilnehmen wollen.

Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk

Dieser Artikel wurde aktualisiert, um einen Fehler mit Bezug auf die Zahl der Betroffenen der Flut in Pakistan zu korrigieren.