Supergau und WHO
23. April 2011Rund 60 Kilometer vom Atomkraftwerk Fukushima entfernt hat die Umweltorganisation Greenpeace bis zu 48 Mikrosievert pro Stunde in zwei Dörfern gemessen. Das ist so viel, dass die Bewohner an einem Tag bereits die in Deutschland zulässige Strahlendosis eines ganzen Jahres abbekommen. "Dennoch", berichtet die japanische Strahlenbiologin Katsumi Furitsu, "werden die Menschen in Gebieten mit den hohen Kontaminierungen nicht evakuiert." Evakuiert werde in einem Radius von 20 Kilometern. Zwischen 20 und 30 Kilometern zu leben, bedeutet dann, möglichst im Haus zu bleiben.
Katsumi Furitsu hat über die Gesundheit der Opfer von Hiroshima geforscht und Tschernobyl-Opfer betreut. Genau wie amerikanische Experten hält sie wegen möglicher gesundheitlicher Folgen eine Evakuierungszone von 80 Kilometern für angemessen. Doch nicht die Strahlenbiologen, sondern die Bürgermeister entscheiden in Japan, ob sie außerhalb der 20 Kilometerzone räumen oder nicht.
Interessenkonflikt mit der Atomlobby
Die Experten der Internationalen Atomenergiebehörde, IAEA, geben keine anderen Empfehlungen. Kritiker sprachen nach dem Super-GAU in Tschernobyl von einer Informationskatastrophe. Davon müsse man auch jetzt wieder sprechen, so Sebastian Pflugbeil, Strahlenexperte aus Berlin, weil die IAEA klare Interessen habe. "Die IAEA hat in ihren Statuten ganz klar formuliert, dass sie die Weiterverbreitung der friedlichen Nutzung der Kernenergie zur Aufgabe hat." Alles, was darauf einen Schatten werfe, werde nach Kräften unterdrückt, betont Pflugbeil.
Trotz der detaillierten Informationen und Zahlen, schrieb der wissenschaftliche Ausschuss der UN erst Anfang des Jahres, "dass es für die große Mehrheit der Bevölkerung keinen Anlass gibt, ernsthafte Gesundheitsfolgen zu befürchten, die von dem Tschernobyl-Unfall herrühren." Dies stehe im krassen Widerspruch zu den zahlreichen Erfahrungen der Ärzte, die die vielen kranken Menschen behandeln und Studien, die inzwischen ganz andere Ergebnisse hervorgebracht haben, berichtet Pflugbeil. Für ihn ist es "einfach menschenverachtend und bedient die Lobbyinteressen der Atomindustrie, sowohl der Lobby der Kernkraftwerksbetreiber und in Klammern dahinter natürlich auch die Interessen der Staaten, die Atomwaffen bauen."
Gesundheitsfolgen kein Thema für die WHO
Auch der deutsche Forscher Hagen Scherb vom Helmholtz Institut in München hatte kürzlich eine Studie veröffentlicht, die auf das Ausbleiben von knapp einer Million Geburten in ganz Europa hinweist. Für ihn ist das eine Folge des Fallouts der Tschernobyl-Wolke vor 25 Jahren über Europa.
Grund also für die Weltgesundheitsorganisation WHO, sich mit den Wirkungen der atomaren Strahlung auf den menschlichen Körper zu beschäftigen? "Nein", sagt Keith Baverstock, der kurz nach der Tschernobyl-Katastrophe für 13 Jahre Mitarbeiter der WHO in Genf wurde. "Sie sehen das Problem nicht. Und vor allem sehen sie nicht, dass es ihr Problem ist." Atomkraft sei aus Sicht der WHO generell kein Gesundheitsrisiko. Sie werde eingestuft wie Kohle- oder Ölkraftwerke auch, die auch ein Risiko für Gesundheit und Sterblichkeit bergen würden. Natürlich sei ein Unfall ein anderes Problem, so Baverstock, doch Unfälle seien im Szenario grundsätzlich nicht vorgesehen. Deshalb gebe es auch längst keine Experten mehr zu diesem Thema bei der WHO.
Forschungsinteresse fehlt
Systematische WHO-Forschungen für die Aufarbeitung der Tschernobyl-Katastrophe gibt es nach Angaben der Organisation Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) ohnehin nicht. Auch dürfe die Weltgesundheitsorganisation solche Untersuchungen nicht ohne Zustimmung der IAEA vornehmen und veröffentlichen. Auf Grund eines Vertrages mit der IAEA aus den 1950er Jahren müsse die WHO zunächst für alle Forschungsfragen in diesem Zusammenhang die Zustimmung der Internationalen Atomenergiebehörde einholen. In Deutschland hat inzwischen eine Diskussion darüber begonnen, bei der kommenden WHO-Konferenz im Mai einen Antrag zum Ausstieg aus diesem Vertrag zu stellen.
Trotz der völkerrechtlichen Verpflichtung, das Menschenrecht auf Gesundheit zu garantieren, hat die internationale Staatengemeinschaft offenbar kein Interesse, das sogenannte "Restrisiko" bei der Atomenergie genauer zu benennen. Auch Europa tue sich schwer, sagt Baverstock. Immerhin habe man nach Tschernobyl erkannt, dass es ein Problem gibt, die Länder Europas und die Öffentlichkeit angemessen zu informieren und zu beraten.
Menschenrecht auf Gesundheit braucht Expertise
Also habe die WHO auf Druck der europäischen Länder das sogenannte "Projekt-Büro für atomare Ereignisse" in Helsinki aufgebaut. Das Büro, das Baverstock ab 1998 leitete, wurde im Jahr 2000 wieder geschlossen. "Die Schließung war damals eine Entscheidung des Regionaldirektors - und das Büro wurde auch nicht anderswo ersetzt," so Baverstock weiter. "Als es dann zur Fukushima-Katastrophe kam, hatten sie schlicht und ergreifend keine Expertise, um mit der Situation fertig zu werden."
Diese Expertise müsse nun schnellstmöglich unter professionellen Standards wieder aufgebaut werden, fordert Baverstock. Schließlich sei es allerhöchste Zeit, zumindest auf europäischer Ebene, eine professionelle, systematische Forschung zu den gesundheitlichen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe in Gang zu bringen.
Autorin: Ulrike Mast-Kirschning
Redakteurin: Helle Jeppesen