"Decamerone" von Serebrennikov in Berlin
12. März 2020Eine Gruppe von Männern und Frauen verlässt eine von einer Epidemie befallene Stadt, findet Schutz in einer alten Villa und unterhält sich gegenseitig mit dem Erzählen von Liebesgeschichten. So kann man grob die Handlung von Giovanni Boccaccios "Decamerone" wiedergeben. Das Meisterwerk stammt eigentlich aus dem 14. Jahrhundert, aber am Deutschen Theater in Berlin wirkt die Inszenierung Serebrennikovs wie eine TV-Serie von heute. Mehr noch: wie ein mögliches Zukunftsszenario angesichts der aktuellen Nachrichtenlage um das neue Coronavirus. Während im realen Leben Toilettenpapier und Desinfektionsmittel aus den Supermärkten verschwinden, zahlreiche Flüge in die weite Welt gestrichen, Fußballspiele und Konzerte abgesagt werden, inszeniert man am Deutschen Theater in Berlin Geschichten über Liebe in Zeiten von Quarantäne.
Der russische Starregisseur Kirill Serebrennikov, der im April 2019 nach über einem Jahr aus dem Hausarrest entlassen wurde, aber immer noch nicht ins Ausland reisen darf, mischt in seiner "Decamerone"-Inszenierung deutsche und russische Schauspieler zu einer vielversprechenden Besetzung. Die Aufführung wurde in Moskau und - über Skype - in Berlin geprobt. Als ob dies nicht genug wäre, fand Serebrennikov per Zeitungsanzeige fünf deutsche Seniorinnen ohne schauspielerische Erfahrung, die sich stundenlang tatenlos auf der Bühne herumtreiben, um am Ende großartige Monologe zu liefern. Die lang erwartete und mehrfach verschobene Premiere fand nun am 8. März in Berlin statt.
Liebesgeschichten ohne Zeit und Ort
Aus dem umfangreichen Katalog von Boccaccio wählte Serebrennikov zehn Geschichten aus. Um sie in zwei Sprachen, Russisch und Deutsch, zu erzählen, bedarf es fast vier Stunden. Serebrennikov ging äußerst freizügig mit der literarischen Quelle um: die meisten Geschichten wurden in die Gegenwart übertragen, einige wurden ohne Bezug auf Zeit und Raum wiedergegeben.
Serebrennikov hat eine Auswahl aus Boccaccios Vorlage getroffen: Darunter die Geschichte eines Stallknechts, der sich in eine Königin verliebt und in Gestalt ihres Ehemannes, des Königs, die Nacht mit ihr verbringt oder die Geschichte eines eifersüchtigen Vaters, der den Liebhaber seiner Tochter qualvoll töten lässt. Es sind Geschichten über unerwiderte Liebe und Leidenschaft; Geschichten, die die Protagonisten von innen auffressen.
Auffressen ist keine poetische Übertreibung, sondern ein Zitat aus einem der Höhepunkte des Stücks, dem starken Monolog von Georgette Dee, einem Star der Inszenierung, aus der Sicht einer untreuen Ehefrau. Jedes Mal nach einem Ehebruch hat ihr Ehemann den gleichen Traum: Ein Wolf greift seine Frau an und zerreißt ihr Gesicht. Jahre vergehen, die Frau wird älter, die Wölfe ebenso. Eine ausweglose Situation und die Erkenntnis: Es ist unmöglich, die Triebe zu bändigen.
Turnhalle für Gefühle
Die Tatsache, dass die ganze Handlung in einer riesigen Turnhalle stattfindet, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Serebrennikov benutzt Sport als Metapher für den anstrengenden Kampf jedes Einzelnen mit sich selbst, mit seinen eigenen Trieben und Gefühlen. Laut Serebrennikov ist Liebe nie gegenseitig, es gibt einen Fehler in dieser Konstruktion. Man kann Liebe in einer anderen Person nur mithilfe eines schmutzigen Tricks hervorrufen.
Das visuelle Hauptelement der Inszenierung sind riesige Gymnastikbälle - ein Symbol für die Einsamkeit der Protagonisten. Schauspieler schieben sie ständig vor sich her, wie Skarabäuskäfer ihre gerollten Mistbälle. So, erzählt Serebrennikov, schiebe jeder von uns einen Haufen von Schmerz, Angst und negativer Erfahrungen durchs Leben. Diese Last kann einem keiner nehmen. Wenn man also etwas über eine glückliche Liebe erfahren möchte, braucht man keine Eintrittskarten für Serebrennikovs "Decamerone" kaufen.
Kommunkationsprobleme
Angesichts der ganzen Einsamkeitsproblematik überrascht es nicht, dass das größte Problem der Inszenierung wohl in der Kommunikation zwischen dem Regisseur und den Schauspielern liegt. Aus den russischen und deutschen Schauspielern will kein einheitliches Ensemble entstehen. Serebrennikov, der sich in seinem Moskau Theater mit meist sportlichen, jungen und schönen Schauspielerinnen und Schauspielern umgeben hat, weshalb seine Stücke oft wie eine trendige Modenschau aussehen, weiß nicht immer recht, was er mit etwas älteren Vertretern der deutschen Theaterschule anfangen soll.
Und wenn ein Schauspieler wie der 26-jährige Jeremy Mockridge harmonisch ins "Serebrennikovs-System" passt, so ist es mit einer Regine Zimmermann, 49-jähriger Primadonna des Deutschen Theaters, schon deutlich schwieriger. Obwohl Serebrennikov selbst im Programmheft des Abends von einer "universellen Sprache des Theaters" und seinem Bestreben "Brücken zu bauen" spricht, überzeugt das Ergebnis nicht ganz.
Kurzum, Kirill Serebrennikov ist diesmal kein Meisterwerk gelungen. Dennoch ist sein "Decamerone" ein beeindruckendes Zeugnis für die Leistungen eines Regisseurs, der mit dieser Aufführung ein internationales Comeback feiert. Vor allem hat Serebrennikov bewiesen, dass er seine Komfortzone verlassen und sich auf eine ihm fremde Theatertruppe einlassen kann - wenn nicht problemfrei, so doch relativ offen. Der Berliner "Decamerone" wird es wahrscheinlich nicht in die Geschichte des Theaters schaffen. Dennoch ist die Inszenierung ein interessantes und unendlich trauriges Werk eines großen Meisters.
Doch nach zwei Inszenierungen wurden die weiteren Aufführungen erst einmal abgesagt. Auch in Berlin ist das Kulturleben wegen der Ausbreitung des neuen Coronavirus drastisch eingeschränkt.