Realitätsschock für die deutsche Russland-Politik
22. Februar 2022Die deutsche Russland-Politik liegt in Trümmern. Eine Politik, die auf Dialog gesetzt hat, während Präsident Putin jetzt Tatsachen schafft - militärische Tatsachen. Das unter maßgeblicher deutscher Vermittlung ausgehandelte ukrainisch-russische Minsker Abkommen zur Befriedung der Ostukraine hat Putin "in Stücke gerissen", wie die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield bei der Dringlichkeitssitzung des Weltsicherheitsrats sagte.
Das Minsker Abkommen sei "ein großer Teil der deutschen Russlandpolitik", sagte Thomas Kunze, Leiter des Moskauer Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, der Deutschen Welle am 22. Februar 2022. "Deutschland, die ehemalige Bundeskanzlerin, der jetzige Bundeskanzler haben sich dafür stark gemacht, Minsk umzusetzen. Das ist jetzt mit der Entscheidung Russlands nicht mehr möglich."
Deutsche Regierungen jedweder Couleur haben immer wieder gesagt: Es gibt keine militärische Lösung. Für Putin gibt es sie. So wie schon die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 aus seiner Sicht eine militärische Lösung war.
Eine veränderte Weltlage
Der Außenpolitikexperte Johannes Varwick von der Universität Halle sagte der DW am 22. Februar, in Deutschland habe man lange verkannt, dass es Putin tatsächlich ernst meine: "Nämlich dass er massiv die Existenz der Ukraine als souveränen Staat in Frage stellt. Und das ist natürlich keine Verhandlungsgrundlage mehr, aus der man gewissermaßen einen Interessensausgleich ableiten kann. Insofern ist es schon eine veränderte Lage und diese Welt sieht heute wirklich anders aus, als sie noch gestern aussah."
Daher kommt die deutsche Diplomatie an diesem Punkt nicht weiter, weil für sie eiserne Prinzipien gelten, die für Putin wertlos sind. Bundeskanzler Scholz erinnerte am Dienstag (22.2.) an die Grundsätze der Unversehrtheit und Unverrückbarkeit von Grenzen. Darauf fuße die gesamte Nachkriegsordnung. Man könnte hier von einem grundsätzlichen Verständnisproblem sprechen, auch von sehr unterschiedlicher Geschichtsauslegung: Deutschland schlug nach dem Nationalsozialismus und des von ihm entfachten Weltkriegs einen Kurs der Gewaltlosigkeit ein. Putin hat dagegen den Zerfall der Sowjetunion als Tragödie empfunden, den er teilweise gern rückgängig machen will, auch mit Gewalt.
Gegenseitige Abhängigkeiten
Aber es gibt daneben handfeste wirtschaftliche Gründe für die deutsche Zurückhaltung. Deutschland ist extrem abhängig von russischen Energielieferungen: Mehr als 40 Prozent seines Erdöls und gut die Hälfte seines Erdgases bezieht Deutschland aus Russland. "Russland beabsichtigt, die ununterbrochenen Lieferungen (von Erdgas) an die Weltmärkte fortzusetzen", versuchte Putin gleich am Dienstag, die westlichen Kunden zu beruhigen. Wenn es nach ihm geht, wird der Völkerrechtsbruch nichts an russischer Liefertreue ändern. Denn die Abhängigkeit besteht auch andersherum: Russland benötigt dringend deutsche und europäische Zahlungen sowie Investitionen.
Schon vor den jüngsten Entwicklungen stand die Bundesregierung unter großem Druck, die neue Ostsee-Erdgasleitung Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland nicht in Betrieb zu nehmen. US-Präsident Joe Biden hatte kürzlich bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington gesagt, ein russischer Einmarsch würde das Aus für die Pipeline bedeuten - während Scholz dabeistand und das weder bestätigte, noch dementierte. "Die Lage ist heute eine grundlegend andere", sagte Scholz am Dienstag in Berlin und setzte den Genehmigungsprozess für Nord Stream 2 aus.
Die Gas- und Benzinpreise in Deutschland steigen bereits seit Monaten kräftig und setzen den Verbrauchern zu. Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen bereitet die Bevölkerung jetzt auf neue Belastungen vor: "Ich will noch einmal betonen, dass Krieg Preise treibt", sagte er. Aber der innenpolitische Druck dürfte den Spielraum für neue Sanktionen einschränken.
Vorsichtige Töne aus Berlin
Auch das erklärt, warum der deutsche Ton gegenüber Russland immer noch gemäßigt klingt, vor allem bei der SPD, zu der auch Bundeskanzler Olaf Scholz gehört. Nils Schmid, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sagte im Bayerischen Rundfunk vorsichtig, dass eine diplomatische Lösung nun schwieriger werde. Russland habe den einzig verbleibenden Rahmen für Verhandlungen um die Ostukraine gesprengt. "Aber dennoch sollten wir versuchen, die Parameter des Minsker Abkommens mit den Russen zu besprechen."
Auch der Grünen-Vorsitzende und Außenpolitiker Omid Nouripour setzt nach wie vor auf Deeskalation. Ja, Deutschland werde auf neue Sanktionsstufen hinwirken. "Aber es kann nicht alles auf einmal auf den Tisch kommen, sondern man muss Schritt für Schritt schauen, was die russische Seite macht", so Nouripour im Sender RBB.
Mehr Härte kommt aus der oppositionellen Union aus CDU/CSU. Ihr außenpolitischer Sprecher in der Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, scheint inzwischen zu bereuen, dass Russland mit der Krim-Annexion eher glimpflich davongekommen ist. "Anders als 2014, nach der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine durch Russland, muss es nun zu einer unzweideutig harten und raschen Sanktionspolitik kommen", sagt der CDU-Politiker. "Wenn der Westen diesen Belastungstest nicht besteht, wird es dauerhaft Unfrieden in Europa geben."
Der Außenpolitikexperte Varwick ist zwar ebenfalls für weitere Sanktionen, warnt aber vor zu großen Erwartungen. "Die Entschlossenheit (Putins) ist groß und die Einflussmöglichkeiten sind klein", weil Putin das Risiko eiskalt kalkuliert habe.
Geduld ist gefragt
Was genau außer Wirtschaftssanktionen der deutschen Diplomatie bleibt, scheint unklar. "In dieser Phase ist es jetzt wichtig, neben ersten Sanktionen eine weitere Eskalation und damit eine weitere Katastrophe zu verhindern. Darauf zielen alle unsere diplomatischen Anstrengungen", sagte Bundeskanzler Scholz. Das Wie bleib er zunächst schuldig.
Trotz allem will Scholz nach eigenen Angaben zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auch am Normandie-Format festhalten. In dieser Runde hatten die Staats- und Regierungschefs Russlands, der Ukraine sowie als Vermittler Deutschlands und Frankreichs über eine Friedenslösung für die Ostukraine verhandelt.
Ist das noch realistisch? Johannes Varwick sieht dafür nur längerfristig Chancen: "Wir dürfen jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken und sagen: Es ist jetzt alles gescheitert und wir müssen uns den Ereignissen fügen." Man müsse beharrlich weiter darauf hinarbeiten, auch mit der Möglichkeit des Normandie-Formats. "Das wird nicht morgen passieren, vielleicht auch nicht übermorgen. Aber es wird der Tag kommen, wo die Diplomatie wieder gefragt ist. Und das sollten wir jetzt vorbereiten."
Daneben betont Thomas Kunze von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau, zwar stehe das Abkommen von Minsk vor einem Scherbenhaufen. Aber: "Die deutsche Russland-Politik besteht nicht nur aus Außenpolitik." Es gebe eine immens große Zahl von Verbindungen nach Russland: "Eben in die Bürgergesellschaft hinein, zwischen den Kirchen, in der Wissenschaft, im Kulturbereich. Das steht sicher nicht vor einem Scherbenhaufen und darf vor keinem Scherbenhaufen stehen."