Himmlers Dienstkalender veröffentlicht
6. August 2016"10.05 Uhr Abfahrt Hotel Vierjahreszeiten, Fahrt nach Berchtesgaden. 12.30 Uhr Trauung des SS-Obergruppenführer Körner, Standesamt Berchtesgaden. 13.30 Essen mit Reichsmarschall Göring." Sauber getippt und in akkuratem Abstand untereinander aufgelistet, passen die Termine an diesem 9. November 1943 auf ein Blatt. Sie stehen in dem offiziellen Dienstkalender von Reichsführer SS Heinrich Himmler, dem Chef des gesamten Polizeiapparates einem hauptverantwortlichen Vollstrecker der Judenvernichtung im Dritten Reich.
Peter Longerich, Münchner Historiker und Autor einer international beachteten Himmler-Biografie, hat mit solchen Quellen und Original-Dokumenten viel gearbeitet und schätzt die Bedeutung der Dienstkalender hoch ein: "Die Jahrgänge 43/44 sind natürlich sehr wichtig, weil Himmler zu denjenigen führenden NS-Funktionären gehört hat, die gegen Ende des Krieges nochmal einen Machtzuwachs erlebten", sagt Longerich im DW-Interview. "Er wurde dann Innenminister, Befehlshaber des Ersatzheeres und war der zweitmächtigste Mann im Dritten Reich."
Dienstkalender = historisches Puzzle
Lange galten Himmlers Dienstkalender der späten Kriegsjahre als verschollen, bis sie außerhalb von Moskau im Archiv des russischen Verteidigungsministeriums in Podolsk gefunden wurden. Dort lagern als Kriegsbeute der Roten Armee noch rund 28.000 unsortierte Akten mit 2,5 Millionen Blatt Original-Dokumenten aus der Nazizeit. Ein unüberschaubarer Fundus für die Wissenschaftler des Deutschen Historischen Instituts (DHI) in Moskau, die seit 2013 an der Auswertung des Himmler-Kalenders der Jahre 1938, 1943 und 1944 arbeiten.
"Das sind Terminkalender, die für jeden Tag auflisten, mit wem sich Himmler getroffen hat", erklärt Matthias Uhl im DW-Interview. "Und wer zu seinem Entscheidungsumfeld oder zu seinem engsten Kreis gehörte." Uhl ist Leiter eines Digitalisierungs- und Forschungs-Projekts des DHI, das von deutscher und russischer Seite ausgewertet wird. Der eine Million Euro teure Großkopierer wurde mit deutschen Forschungsgeldern finanziert, nutzbringend für beide Seiten, da die gespeicherten Daten erheblichen Umfang angenommen haben.
Mühsame Archivrecherchen
Das Team aus Historikern und Geschichtsforschern des Deutschen Historischen Archivs (DHI) arbeitet vor Ort, im Austausch mit russischen Kollegen, an der systematischen Sichtung und Auswertung dieser Kalender der Jahre 1938, 1943 und 1944. Keine leichte Aufgabe für die deutschen Historiker, sagt DW-Redakteurin Anastassia Boutsko. "In russischen Archiven lagern unzählige Dokumente aus Nazi-Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind über 157.000 Mappen voll mit Dokumenten und Unterlagen aus dem Zentralen Reichsarchiv abtransportiert worden, dazu zahlreiche Behördenarchive."
Ob durch Zufall oder strategisch terminiert, der Verbleib der Dienstkalender von Himmler im Armeearchiv in Podolsk war seit längerem bekannt, der Zugang für die Forschung allerdings begrenzt. Auf dem vergilbten Archiv-Deckblatt, das jetzt in der BILD-Zeitung erstmals veröffentlicht wurde, ist handschriftlich vermerkt das Wort: "Dnewnik", auf Deutsch: Tagebuch, zu lesen.
Wissenschaftliches Joint Venture
Seite für Seite werden in Moskau die Kalender von Himmler digitalisiert, mit anderen Quellen abgeglichen und historisch eingeordnet. Einträge an einem historisch wichtigen Datum, wie dem 20. Juli 1944, dem Tag des Attentates auf Hitler, sind für die Forscher des DHI besonders interessant, erklärt Himmler-Forscher Longerich gegenüber der DW.
In den Kalendern findet sich auch die bürokratische Systematik der nationalsozialistischen Judenvernichtung wieder. Die sauber getippten Einträge dokumentieren die Skrupellosigkeit und Gefühlskälte Heinrich Himmlers, den seine Frau zärtlich "Heini" nannte. Das zeitliche Nebeneinander von Massageterminen, Mittagessen und anschließenden Massenerschießungen spricht seine eigene Sprache. Für den SS-Mann waren die Vernichtungslager im Osten so etwas wie touristische Reiseziele.
Mehr als 1600 Personen konnten die DHI-Forscher für einen Zeitraum von zwei Jahren als Gesprächspartner von Himmler ermitteln, sagt Mathias Uhl: "Was darauf hindeutet, dass er versucht hat, über die SS in allen entscheidenden Bereichen von Partei, Staat, Militär und Wirtschaft Einfluss zu nehmen." Himmlers personelles Netzwerk war berüchtigt und sicherte ihm seine Machtposition vor allem in Berlin.
Bislang war der spektakuläre Fund der Himmler-Kalender von 1938, 1943 und 1944 nicht veröffentlicht worden. Anastassia Boutsko hat dafür eine einfache Erklärung: "Man wollte man das Projekt nicht mit einer zu frühen Öffentlichkeit gefährden. Zum anderen verfolgt man die durchaus vernünftige Strategie, interessante oder sogar sensationelle Funde gut portioniert an die Öffentlichkeit zu bringen. Und damit sicherzustellen, dass das Projekt nicht vorzeitig gestoppt wird, bevor es auch für die deutsche Seite Früchte getragen hat."
Zweibändige Edition geplant
Erst nach der exklusiven Veröffentlichung der BILD-Zeitung, die damit eine achtteilige Serie über die Kalender startete, gaben die deutschen Wissenschaftler dazu Interviews."Die Dokumente werden Ende 2017 als zweibändige Edition auf dem Buchmarkt erscheinen", kündigt Matthias Uhl im Gespräch mit der DW an. Für ihn und sein Forscherteam ist jedes Detail aufschlussreich. "Hier kann man quasi minütlich den gesamten Tagesablauf von Himmler verfolgen und vor allem den historischen Zusammenhang seiner wichtigsten Entscheidungen rekonstruieren" erklärt er den Wert dieses Fundes.
Zusammen mit Dieter Pohl von der Universität Klagenfurt, der schon die Edition der Himmler-Kalender von 1940/41 wissenschaftlich begleitet hat, digitalisieren sie in Moskau derzeit alle verfügbaren Dokumente.
Tagebücher als Kriegssouvenier
Die Terminkalender der kriegswichtigen Jahre 1940/41 waren bereits 1991 entdeckt worden - in einem Sonderarchiv des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Moskau. Inzwischen liegen sie in mustergültiger Aufarbeitung als historische Edition vor. Himmlers frühe Tagebücher aus den Jahren 1914 – 1922, Teile seiner privaten Briefe und andere Dokumente werden im Bundesarchiv in Koblenz verwahrt. Amerikanische GIs hatten die Dokumente 1945 als "Nazi-Souveniers" aus dem Privathaus von Himmler in Gmund mitgenommen. Später kamen sie über Umwege zurück nach Deutschland.
Anfang 2014 hatte die Tageszeitung "Die Welt" die privaten Briefe von Heinrich Himmler an seine Frau und seine Tochter "Püppi" bereits publiziert - in einer auflagensteigernden Serie. Auch die Briefe Himmlers an seine Geliebte Hedwig Potthast, vorher seine Sekretärin, waren davor schon an die Öffentlichkeit gelangt. In Himmlers Dienstkalender sind die Liebes-Ausflüge mit "Häschen" ganz offiziell als "unterwegs" vermerkt. "1. Juni 1938: 15 Uhr Arbeit mit Frl. Potthast, 16 Uhr Kaffee, 16.30 Uhr Aufbruch zur Jagd". Mit ihr hatte der Reichsführer SS weitere Kinder und ohne Skrupel eine zweite Familie – ganz im Sinne der SS-Rassenideologie, die arischen Nachwuchs für "Volk und Vaterland" forderte.
Vollstrecker der "Endlösung"
Persönlich gemordet hat Himmler, der sich gern beim Pistolenschießen fotografieren ließ, vermutlich nie, aber als oberster SS-Führer befehligte er die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden in ganz Europa. Seine Waffen-SS errichteten in den besetzten Gebieten vor allem in Osteuropa ein Schreckensregime – auf seinen Befehl.
Die Waffen-SS war seine Mordwaffe, in seinen Befehlen ging er "über Leichen", sein Netzwerk an persönlichen Kontakten war berüchtigt - und gefürchtet. Namen wurden in seinen Dienst-Kalendern akribisch festgehalten, sauber geführt und in Kolonnen getippt von einem Stab an persönlichen Adjutanten. Heute eine kostbare Quelle für die Forschung.
Dienstkalender zeigen die manische Akribie Himmlers
Regelmäßig reiste Himmler zu Kontrollterminen und Inspektionen des nationalsozialistischen Mordapparates quer durchs Deutsche Reich, alles akribisch in seinem Terminkalender vermerkt. Aber das historische Bild des skrupellosen Massenmörders Himmler, der sich selbst nur ungern die Hände schmutzig machte, wird der Inhalt der Dienstkalender von 1938, 1943/44 nicht grundlegend verändern. Das sieht auch Himmler-Biograf Peter Longerich so. Aber die Dienstkalender geben nochmal detaillierten Einblick in die bürokratische Seele eines der mächtigsten Nazi-Führer.
1945, kurz nachdem ihn britische Militärpolizisten - getarnt als einfachen Soldaten- aufgegriffen hatten, entzog sich Heinrich Himmler der Verhaftung durch Selbstmord. Er zerbiss eine Zyankalikapsel, die er immer bei sich trug. Das Datum 23. Mai 1945 steht nicht mehr in seinem Terminkalender.