Außergewöhnliche Erfahrung
16. Juli 2015
DW: Herr Turner, sie waren drei Jahre lange als Direktor für das UN Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) im Gazastreifen tätig. Wie haben sie ihre Zeit dort erlebt?
Robert Turner: Es ist einfach, an der Situation in Gaza zu verzweifeln, wenn man sich die Probleme anschaut und denkt, das wird sich niemals lösen lassen. Aber man kann auch sagen, schaut, diese Menschen hier sind äußerst widerstandsfähig und belastbar, sie haben sehr viel durchgemacht, aber wenn sich eine Chance ergibt, dann machen sie davon Gebrauch. Sie schaffen sich ihre eigenen Möglichkeiten. Ich verlasse Gaza schweren Herzens, denn es war eine außergewöhnliche Erfahrung, aber ich gehe auch mit etwas Optimismus, dass sich die Situation verbessern kann.
Im Gazastreifen zu arbeiten kann schon in normalen Zeiten sehr herausfordernd sein. Sie haben zwei Kriege miterlebt, in 2012 und Sie waren in Gaza während des letzten Krieges im Sommer 2014.
Wir haben gedacht, dass der Krieg in 2012 schon sehr schlimm war. Bis dann 2014 kam. Und im Vergleich dazu war die Situation 2012 fast harmlos, wenn man das so sagen kann. Besonders der letzte Sommer war in vielerlei Hinsicht der absolute Horror. Schon deshalb war es sehr außergewöhnlich wie wir darauf reagiert haben, wie unsere Mitarbeiter darauf reagiert haben und daran teilzuhaben, das werde ich sicher niemals vergessen. Sie haben einen absolut tollen Job gemacht, unter diesen extrem schwierigen und gefährlichen Bedingungen sind sie jeden Tag zur Arbeit erschienen, 5000 Menschen die jeden Tag inmitten eines Krieges zur Arbeit kommen, um anderen Menschen zu helfen. Das ist wirklich etwas ganz besonderes. Alles in allem war meine Arbeit in Gaza wohl der herausforderndste aber auch der dankbarste Job den ich je gemacht habe, und das wird wohl auch so bleiben, ganz gleich was ich danach tun werde.
Wie würden sie die Situation in Gaza heute beschreiben, ein Jahr nach dem Krieg?
Die Gesamtsituation für die meisten Menschen in Gaza ist schlimmer als vor einem Jahr. Die humanitäre Situation hat sich nicht verbessert, an der Arbeitslosigkeit und Armut hat sich nichts getan, und dazu kommt noch die Zerstörung, die physische Zerstörung und die psychologischen Schäden des Konflikts letzten Sommer. Es ist eine ziemlich hoffnungslose Lage.
Viele Menschen in Gaza sagen, dass sie nicht genügend Hilfe bekommen. Der Wiederaufbau ist sehr langsam, vor allem für die Menschen, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben im letzten Krieg.
Es gibt zwei verschiedene Gruppen, da sind die, deren Häuser Schäden aus dem Krieg haben, und die finanzielle Hilfe benötigen, um sie zu reparieren. Und es gibt die Gruppe, deren Häuser komplett zerstört wurden, und diese brauchen auch Hilfe, um sie wieder aufzubauen. Wenn es um Reparaturen geht, dann liegt es daran, dass wir einfach nicht genügend Gelder haben. Wir haben bereits Geld ausgegeben für Reparaturen und Mietzuschüsse, und haben 60.000 Familien damit unterstützt. Aber wir könnten ganz leicht noch mehrere Zehn-Millionen dafür ausgeben, wenn das Geld vorhanden wäre.
Für die, die ihr gesamtes Haus verloren haben, gab es zusätzlich zu den finanziellen Engpässen auch einige technische Probleme, aber diese wurden jetzt gelöst. Damit funktioniert jetzt auch der "Gaza-Reconstruction Mechanism" und wir konnten jetzt grünes Licht geben für den Aufbau von Häusern, die komplett zerstört wurden. Die erste Gruppe mit Namen von der Warteliste wurde jetzt genehmigt, und wir haben die ersten Zahlungen veranlasst. Das betrifft in dieser Woche zwar nur 35 Familien - aber es ist immerhin ein Anfang.
Wie verhält sich Israel damit - gibt es denn dort auch ein Umdenken ?
Ohne zu wissen, in welche Kristallkugel die Israelis schauen, kann man sagen, dass offenbar darüber nachgedacht wird, dass sich die Bedingungen in Gaza ändern müssen und das man deshalb auch die Vorgehensweise ändern muss. Das kann man in offiziellen Äußerungen einiger Israelis erkennen. Man versteht jetzt offenbar, dass sich die Bedingungen in Gaza für die Palästinenser verändern müssen, um Israels Sicherheit zu gewährleisten. Als ich mit Israelis vor dem letzten Krieg darüber gesprochen habe, was sich verändern muss, um einen neuen Konflikt zu verhindern, da hieß es nur, das sei nicht möglich. Es sind politisch wichtige Schritte, und wir können nur hoffen, dass diese schneller umgesetzt werden, weiter ausgebaut und letztlich auch langfristig weitergehen werden.
In den letzten Jahren sind immer mehr Palästinenser abhängig von UN-Hilfe geworden, da sich die Situation aufgrund der langanhaltenden israelischen Blockadepolitik immer weiter verschlechtert hat. Aber auch UNRWA hat eigene finanzielle Probleme. Wie beeinflusst das die Arbeit vor Ort ?
Wir haben verschiedene finanzielle Probleme. Wir sind noch immer auf der Suche nach mehr finanzieller Unterstützung für den Wiederaufbau-Prozess. Deutschland hat uns dabei bislang sehr bedeutend unterstützt. Das zweite Problem betrifft den Haushalt für unsere generelle Arbeit, mit dem wir zum Beispiel die Schulen und Gesundheitszentren finanzieren. Uns fehlen rund $101 Millionen, ein solch hohes Defizit hatten wir noch nie. Wir mussten deshalb einige schwierige Entscheidungen treffen, um die Kosten zu kontrollieren, so haben wir zum Beispiel internationale Mitarbeiter auf Kurzzeitverträgen reduziert und es gibt einen Einstellungsstop. Wir haben also einen Plan, um Kosten zu sparen, aber gleichzeitig müssen wir auch nach finanzieller Unterstützung suchen.
Nach drei Jahren Aufenthalt in Gaza, was nehmen Sie von dort mit?
Eine Sache, die man hier lernt, ist Bescheidenheit, sogar Demut. Und das in vielerlei Hinsicht. Inmitten von Palästinensern in Gaza zu leben, und dabei mit zu erleben, was sie in den letzten acht Jahren (der Blockade) alles durchmachen mussten. Natürlich gibt es einige, die jegliche Hoffnung verloren haben. Aber die meisten Menschen hier wollen sich nicht den Mut nehmen lassen, obwohl das angesichts der Situation absolut verständlich wäre.
Es gibt ein Erlebnis aus dem Krieg 2012, an das ich mich immer erinnere. Ich habe damals unsere Klinik im Stadtzentrum besucht, um zu sehen, wie es unseren Mitarbeitern in der Situation geht. Und da saß eine Gruppe von jungen Frauen mit ihren Babies. Ich habe den Arzt gefragt, warum sind diese Frauen alle hier? Und er erzählte mir, sie hätten morgens angerufen um zu sehen, ob die Klinik offen sei, damit sie ihre Kinder zum impfen bringen können. Ich habe immer gedacht, das ist etwas ganz besonderes, diese Frauen kommen hierher, mitten in einem Krieg, um ihre Kinder impfen zu lassen. Das ist ein Bespiel für eine Gesellschaft, die sich ständig anpassen muss, die so unerschütterlich ist, und das ist wirklich sehr außergewöhnlich.
Robert Turner begann seine Arbeit als UNRWA Direktor im Gazastreifen in 2012 und hat zwei Kriege miterlebt.