Sechs Roma-Abgeordnete im neuen Parlament der Slowakei
18. Oktober 2023Es war eine der größten Überraschungen bei der slowakischen Wahl Ende September 2023: Als über die Fernseher die ersten Wahlgraphiken flackerten, tauchte neben der roten Farbe von Robert Ficos siegreicher Smer-Partei und der blauen Farbe ihres größten Konkurrenten, der pro-europäischen Progressiven Slowakei, auch immer wieder die grüne Farbe der Anti-Korruptionspartei Obycajni ludia a nezavisle osobnosti (OLaNO) auf.
Die Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Igor Matovic, die sich zu einem Wahlbündnis mit mehreren anderen kleineren Parteien zusammengeschlossen hatte, erhielt am Ende fast neun Prozent der Stimmen. Damit übertraf sie die meisten Umfragen vor der Wahl deutlich - und wurde zur viertstärksten Kraft im Parlament. OLaNO konnte vor allem im Osten der Slowakei Stimmen sammeln - einer Region, in der besonders viele Roma wohnen. Wie stark die Partei von den Stimmen der zweitgrößten ethnischen Minderheit im Land nach den Ungarn profitierte, überraschte Politiker und Medien gleichermaßen.
Überwältigende Unterstützung aus der Roma-Community
"Matovic gewann mit großer Mehrheit in den Roma-Siedlungen. In einigen Orten erhielt er mehr als 90 Prozent der Stimmen", schrieb die ostslowakische Tageszeitung Korzar im Anschluss an die Wahl. "In Lomnicka, das von der Roma-Gemeinschaft bewohnt wird, stimmten mehr als 92 Prozent der Wähler für OLaNO. Jede andere Partei hat dort höchstens drei Prozent der Stimmen erhalten", beschrieb die Zeitung die Situation in einer Siedlung in der Nähe von Stara Lubovna in der Mittelslowakei, wo mehr als 3000 Roma leben. "Es gibt mehr als vierzig Gemeinden mit einer Mehrheit von Roma, in denen OlaNO triumphiert hat", berichtete der Nachrichtenserver Aktuality.sk.
Unmittelbar nach den Wahlen begann die slowakische Polizei zu ermitteln, ob die Zahlen möglicherweise aufgrund von Wahlbetrug oder Bestechung zustande gekommen waren. In der Vergangenheit wurden teils gezielt Roma angesprochen, um Stimmen zu kaufen. Doch auch zwei Wochen nach den Wahlen wurden noch keine entsprechenden Ergebnisse veröffentlicht. Ex-Premier Igor Matovic nannte die Vorwürfe absurd. "Wir haben einfach einen guten Wahlkampf gemacht", sagte der OLaNO-Chef gegenüber slowakischen Medien.
Abgeschiedene Dörfer, vergessene Menschen
Der Wahlkampf von Matovics Partei kam zum Beispiel in der Roma-Siedlung Strelnice gut an. Sie wurde vor zehn Jahren vom slowakischen Staat errichtet, um Roma aus dem Dorf Letanovsky Mlyn umzusiedeln. Es lag in unmittelbarer Nähe des Nationalparks Slowakisches Paradies - und stand nach Auffassung lokaler Politiker der wirtschaftlichen Entwicklung der Region im Wege. Die vom Staat erbauten ebenerdigen Ziegelhäuser in Strelnice sind selbst für slowakische Verhältnisse noch eine Armensiedlung. Aber es gibt immerhin asphaltierte Bürgersteige, zwei Geschäfte, einen Spielplatz, eine Kirche, ein Gemeindezentrum ist im Bau, und dreimal am Tag fährt hier ein Bus.
Die Region rund um Strelnice war bis 1945 vor allem von Deutschen besiedelt. Nach deren Vertreibung blieben von ihnen nur noch die gotischen Kirchen - und ihre pittoresken Häuser. Als die kommunistische Regierung Roma dazu zwang, dauerhaft sesshaft zu werden, wurden viele hier angesiedelt, südöstlich des Tatra-Gebirges. In der Region sind heute die meisten der rund eine halbe Million Roma in der Slowakei zu Hause. Ein großer Teil von ihnen lebt in Siedlungen, die Slums ähneln, fernab von anderen slowakischen Dörfern. Wie auch in Strelnice: Bis zur Stadt Spissky Ctvrtek ist es weit über einen Kilometer, bis zur Schule in Letanovce über ein Feld drei Kilometer, mit dem Bus fünf. Trotzdem sagt Valérie, eine Romnja in den Vierzigern, die als Krankenschwester arbeitet und vor zehn Jahren von Letanovsky Mlyn nach Strelnice umgesiedelt wurde: "Wir hatten Glück. Hier ist es viel besser. Es gibt Wasser, Strom, Kanalisation. Wir leben wie Menschen."
Igor Matovic und seine OLaNO-Partei sind hier in Strelnice äußerst beliebt. "Matovic war der einzige Premierminister, der in den letzten zehn Jahren etwas für uns Roma getan hat", sagt Martin, ein Rom Mitte 30, vor der Wahl Ende September der DW.
Ein segregiertes Schulsystem und Sonderschulklassen
"Es ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Tatsache, dass die Regierung von Igor Matovic den ärmsten Bevölkerungsgruppen geholfen hat, von denen die große Mehrheit Roma sind", sagt der slowakische Soziologe Michal Vasecka gegenüber der DW.
"Die Erhöhung des Kindergeldes von 30 auf 60 Euro pro Kind ab diesem Jahr ist etwas, das große Roma-Familien definitiv spüren werden", sagt Vasecka. Und Krankenschwester Valérie bestätigt: "Das Kindergeld wurde erhöht, das ist ein wichtiges Einkommen."
Wie in vielen anderen europäischen Ländern gibt es für die Roma in der Slowakei kaum Möglichkeiten, den Kreislauf der Armut zu durchbrechen, in den sie durch Jahrhunderte der systematischen Ausgrenzung und Vernachlässigung gezwungen wurden. Die Europäische Kommission kam Anfang 2023 zu dem Schluss, dass die Slowakei viel zu wenig tut, um Roma zu integrieren.
In keinem anderen Land der EU ist die Segregation in Schulen so weit fortgeschritten. Ganze Schulen werden allein von Roma-Kindern besucht, oft sind sie schlechter ausgestattet als die für slowakische Kinder ohne Roma-Hintergrund. Viele Kinder werden in Sonderschulklassen abgeschoben. Ohne eine entsprechende Ausbildung haben sie als Erwachsene noch weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wo sie ohnehin aufgrund ihrer Ethnie benachteiligt werden.
Roma als Wähler und Abgeordnete
Aber es geht nicht nur um die finanzielle Unterstützung. Matovic hat die Roma nie offen beschimpft - ganz anders als andere slowakische Politiker. Gegen Roma hetzen galt vor allem in populistischen Kreisen lange als Stimmengarant. Von Politikern der ultrarechten LSNS-Partei wurden sie als "Parasiten" und "Affen" bezeichnet. Robert Fico, Wahlsieger von 2023, sprang einem der LSNS-Politiker 2019 öffentlich bei, als dieser wegen einer antiziganistischen Aussage in einem Radiointerview zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. "Sollen wir jetzt Angst davor haben, offen zu sagen, dass die Roma unser Sozialsystem ausnutzen?", sagte Fico in einem Video auf Facebook. Unter Ficos Führung kürzte die Smer-Partei die Sozialleistungen zudem stark.
Auch wenn beim diesjährigen Wahlkampf andere Themen als die Roma-Community im Zentrum standen, werden Roma weiterhin vor allem als Problem wahrgenommen. Als potenzielle Wählerinnen und Wähler sehen die Politiker sie dagegen selten - obwohl immerhin neun Prozent der Slowaken Roma sind.
Innerhalb der OLaNO gibt es dagegen sogar mit Pacivale Roma eine eigene aktive Roma-Organisation. Sie wirbt mit Slogans wie "Die Roma sind das ungenutzte Potenzial der Slowakei", was auch Politiker, die die Interessen der Roma im Sinn haben, selten so offen sagen würden. Die Partei rühmt sich auch damit, mit Peter Pollak 2012 den ersten Rom ins Parlament gebracht zu haben.
Nach diesen Wahlen wird es, auch dank des Erfolgs von OLaNO, sechs statt wie bisher drei Roma-Abgeordnete im 150-köpfigen slowakischen Parlament geben. Vier von ihnen wurden für das Parteienbündnis von Igor Matovic gewählt, zwei für die größte Oppositionspartei, der Progressiven Slowakei. Dies ist die größte Anzahl von Roma-Abgeordneten in der Geschichte der Slowakei.
Generell, sagt Soziologe Vasecka, haben die slowakischen Roma in den letzten zehn Jahren begonnen, die Macht der Wählerstimmen zu erkennen. "Wir haben jetzt Roma-Bürgermeister in mehr als 40 slowakischen Dörfern", sagt Vasecka.