"Eine außerordentlich fragile Situation"
17. Oktober 2016DW: Herr Maurer, aus dem Norden Nigerias kommen selten positive Nachrichten. Vor ein paar Tagen hatten wir so eine: 21 der sogenannten "Chibok-Girls", die vor zweieinhalb Jahren aus einer Schule entführt worden waren, kamen frei. Stimmt Sie das optimistisch?
Peter Maurer: Meine Aufgabe ist es nicht, optimistisch oder pessimistisch zu sein. Wir werden sehen.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat eine Rolle bei der Freilassung der jungen Frauen gespielt. Worin die bestand, darüber wurde in Nigeria viel spekuliert. Wie genau hat das Rote Kreuz geholfen?
Wir sind traditionell nicht als Vermittler bei Geiselnahmen oder ähnlichen Problemlagen tätig. Aber wenn Lösungen gefunden werden, sind wir bereit, diese Lösungen umzusetzen - wenn wir von beiden Seiten als neutrale und unabhängige Organisation akzeptiert werden, was hier der Fall war. Also hat die bewaffnete Opposition uns die Chibok-Girls übergeben und wir konnten sie dann der nigerianischen Regierung übergeben.
Ihre Mitarbeiter waren also im Kontakt mit Terroristen von Boko Haram?
Wir haben die Chibok-Girls in Empfang genommen und der nigerianischen Regierung übergeben.
Ist das weiterhin ein Angebot von Ihnen, in den Vermittlungen oder der Abwicklung zu helfen?
Das IKRK ist immer bereit, wenn entsprechende Arrangements von kriegführenden Parteien gefunden werden, als neutraler Vermittler tätig zu sein, als Intermediär tätig zu sein und die guten Dienste zur Verfügung zu stellen. Das war in diesem Falle so.
Sie treffen am Montag den Präsidenten Muhammadu Buhari. Worum wird es gehen?
Es geht sicher um unsere Operation in Nigeria und in der gesamten Region. Dies ist eine unserer größten Operationen weltweit. Daher bin ich froh, dass wir auch auf hoher Regierungsebene Kontakt haben können.
In der Region um den Tschadsee sind hunderttausende Menschen vom Hunger bedroht. Die Vereinten Nationen haben ausdrücklich vor der Entwicklung im Nordosten Nigerias und um den Tschadsee gewarnt. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Für uns ist es auch eine schwere humanitäre Krise. Die zweitgrößte Operation des IKRK nach Syrien befindet sich heute in der Tschadsee-Region, die sich über die vier Länder Tschad, Nigeria, Kamerun, Niger erstreckt. Im Norden Nigerias gibt es heute mehr intern vertriebene als ansässige Leute. Wahrscheinlich sind zehn Millionen Menschen von der Krise betroffen. Wir versuchen, dem durch einen Ausbau unserer Operation zu begegnen, aber es ist eine außerordentlich fragile Situation. Die Kanzlerin hat ja die Region besucht und ich kann mich ihrem Urteil nur anschließen, dass hier auch längerfristig Hilfe geleistet werden muss.
Bei meinen Reisen in der Region hatte ich häufig das Gefühl, dass Hilfsorganisationen viel weniger sichtbar sind als in anderen Krisenregionen Afrikas. Haben Geberländer und Hilfsorganisationen die Krise verschlafen, die sich dort zusammenbraute?
Hilfsorganisationen waren nicht nur nicht sichtbar - sie waren lange Zeit nicht dort! Viele wollten oder konnten wegen der Sicherheitslage nicht dort sein. Für das IKRK war das schon lange eine große Operation, wir sind seit langer Zeit im Norden Nigerias und im Norden Kameruns tätig. Jetzt haben wir unsere Operation dort stark ausgebaut. Ich bin froh, dass inzwischen auch vermehrt Agenturen der Vereinten Nationen in dieser Region aktiv sind.
Ist die Zusammenarbeit mit Militär und Regierung einfacher geworden?
Wir hatten immer einen guten Dialog mit der nigerianischen Regierung und haben immer zügig arbeiten können. Aber die Sicherheitslage hat sich ein bisschen stabilisiert, was nun auch anderen Akteuren ermöglicht, in dieser Region zu arbeiten.
Sie haben sich gerade in Lagos mit Vertretern der Business-Community getroffen. Wie wollen Sie diese mehr in Ihre Arbeit einspannen?
Eines der Phänomene, mit denen wir in Nigeria konfrontiert sind, ist, dass es ein Land ist, das ökonomisch außerordentlich innovativ und wachstumsorientiert ist - und gleichzeitig viel Armut, Konflikt und Not kennt. Aus unserer Perspektive ist es schwierig, Geld international zu mobilisieren, wenn nicht auch mehr in Nigerias Business-Community geschieht und wenn nicht auch der nigerianische Staat mehr einbringt. In Nigeria gibt es eine lebendige, innovative Wirtschaft, die fähig - und ich hoffe, zunehmend auch willens - ist, ihre Fähigkeiten dafür einzusetzen, humanitäre Not zu lindern.
Peter Maurer leitet seit 2012 das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).
Das Interview führte Adrian Kriesch.