Rumäniens mühsame Vergangenheitsbewältigung
10. Februar 2016Der 90-jährige frühere Gefängnisdirektor Alexandru Visinescu (Artikelbild) zeigt auch heute keinerlei Reue - trotz der erdrückenden Beweislast. Das Oberste Gericht in Rumänien entschied am Mittwoch endgültig über seinen Fall: Als Leiter der Haftanstalt Ramnicu Sarat sei er für den Tod zahlreicher Gefangener durch Misshandlung verantwortlich. jetzt wurde er rechtskräftig zu 20 Jahren Haft verurteilen. Das Gericht bestätigte damit Urteile der Vorinstanzen.
Der ehemalige Offizier des gefürchteten kommunistischen Geheimdienstes Securitate in Rumänien übernahm eine Verteidigungsstrategie, die unter Vertretern eines totalitären Regimes sehr weit verbreitet ist: Er bezeichnete sich als einen einfachen "Befehlsempfänger" und beteuerte, nur Anweisungen befolgt zu haben.
Das Leid von hunderttausenden Rumänen
Gegen rund 30 weitere mutmaßliche Folterer aus der kommunistischen Zeit laufen Ermittlungsverfahren, doch von einem endgültigen Urteil sind diese Fälle noch weit entfernt. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass das Urteil im Fall Visinescu für die Opfer des kommunistischen Regimes sowie die Kinder und Angehörigen der mehr als 600.000 politischen Gefangenen aus jener Zeit, nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist.
"Ist es diese endgültige Verurteilung, auf die wir so lange gewartet haben? Kann man das in kommunistischen Kerkern erduldete Leid von hunderttausenden Rumänen mit der Verurteilung eines bis heute uneinsichtigen, verantwortungslosen, übereifrigen Schergen des kommunistischen Regimes aufwiegen?", fragt der ehemalige politische Häftling Paul Lazarescu enttäuscht im Gespräch mit der DW. Fast ein Jahrzehnt seines Lebens verbrachte er im Gefängnis, nachdem er als Student und Aktivist der christlich-demokratischen Bauernpartei von den Kommunisten verhaftet worden war. Nach dem Ende der kommunistischen Diktatur (1989) war der Journalist und Philologe unter anderem Chefredakteur von zwei Zeitungen.
Er kritisiert die dürftige juristische Bilanz Rumäniens bei der Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen: "Wo bleiben die Verfahren gegen die Scharen der folternden Verhörspezialisten, die uns mit nassen Stricken krankenhausreif schlugen und mit Elektroschocks traktierten? Was geschieht mit den damaligen Bonzen der Kommunistischen Partei, die das Schalten und Walten der Folterknechte der Securitate erst ermöglichten?"
Berüchtigter "Kerker der Stille"
Als Leiter der Haftanstalt Ramnicu Sarat hatte sich Visinescu zwischen 1956 und 1963 als besonders erbarmungsloser Vollzugsbeamter hervorgetan. Sein berüchtigtes politisches Gefängnis war als "Kerker der Stille" bekannt, weil dort selbst das Sprechen verboten war. Die politischen Gefängnisse im kommunistischen Rumänien standen dem sowjetischen Gulag in Sachen Brutalität und Folter kaum nach. Schonungslos wurden "die Politischen" durch Hunger, Kälte, Schläge, jahrelange Einzelhaft und Schlafentzug gequält, um Geständnisse gegen Mitbürger herauszupressen, um sie weichzuklopfen - oder auch nur aus Sadismus. Nicht selten wurde der Tod der Gefangenen billigend in Kauf genommen.
Der erlittene Schock saß oftmals so tief, dass die Einschüchterung noch jahrzehntelang nach der Befreiung der Opfer weiterwirkte. Ein einziger ehemaliger Gefangener war bereit, als Zeuge im Prozess gegen Visinescu auszusagen. Unter vielen ehemaligen Häftlingen herrscht die Meinung, dass Spitzenvertreter des kommunistischen Regimes immer noch in der politischen und wirtschaftlichen Elite Rumäniens vertreten sind und ihre schützende Hand über die Mörder der Securitate halten.
In Rumänien erweist sich die Vergangenheitsbewältigung als schleppend - sowohl in Bezug auf die kommunistische Diktatur als auch auf die Beteiligung des rumänischen Staates am Holocaust, die erst ab 2003 offiziell anerkannt wurde. Trotz der vielen Fortschritte bei der Aufarbeitung wird diese Beteiligung inoffiziell auch von Teilen der kulturellen Elite in der Öffentlichkeit immer noch relativiert oder verdrängt.
Historiker Dobrincu: Urteil als positives Signal
Der rumänische Historiker Dorin Dobrincu begrüßt das Urteil gegen Visinescu im DW-Gespräch. Es sei ein Zeichen dafür, dass die Verbrechen der kommunistischen Diktatur keinesfalls verjähren dürfen. Er würdigt es, weil es den "direkten und indirekten Opfern Gerechtigkeit widerfahren lässt". Außerdem sei es "ein wichtiges Signal an die Gesellschaft, dass die Zeit eben nicht alle Untaten ungeschehen macht."
Für den Historiker ist das Urteil aber ein positives Zeichen dafür, dass sich die rumänische Gesellschaft und Justiz normalisiert und demokratisiert - wenn auch nur langsam. Ein anderer Fortschritt in Sachen Vergangenheitsbewältigung sei außerdem, dass die Justiz auch gegen post-kommunistische Spitzenpolitiker - wie den ehemaligen Präsidenten Ion Iliescu - wegen deren Rolle bei den gewalttätigen Ausschreitungen der Bergarbeiter in Bukarest Anfang der 1990er Jahre ermittelt.