"Die Pandemie hat unsere Sicht auf Europa verändert"
24. Juni 2020Die Corona-Krise hat Künstler besonders hart getroffen. Die Monate des Lockdowns legten weltweit das ganze Kulturleben lahm. Doch auch wenn sie ihre Arbeit nicht wie gewohnt fortführen konnten, bleiben sie wach und kritisch unserer Welt gegenüber, die nun vor neuen Herausforderungen steht. Theaterschaffende suchen daher andere Mittel und Kanäle, um sich auszudrücken.
Im Mai 2020 sollte, als Initiative der Berliner Volksbühne das transkulturelle Festival "POSTWEST\\ guess where" stattfinden. Die zwölf Inszenierungen aus zehn Ländern unseres Kontinents - Deutschland, Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Kosovo, Lettland, Litauen, Estland und Ukraine - hatten sich zum Ziel gesetzt, die Ost-West-Teilung Europas und die damit verbundenen Stereotypen künstlerisch zu hinterfragen. Der Name ist Programm.
"Die Volksbühne mit ihrer langen und bewegten Geschichte und die Stadt Berlin sind markante Symbole für die Spaltung Europas - eine Spaltung, die man nach dem Mauerfall vielleicht nicht mehr sieht, aber immer noch spürt", sagt die Kuratorin des Festivals, Alina Aleshchenko, im Gespräch mit der DW. Sie ist gebürtige Moskauerin und lebt seit 2015 in Deutschland. "Was bedeutet es heute, auch für junge Künstler, Osteuropäer zu sein? Das ist eine Frage, die zum roten Faden des Festivals wird", so Aleshchenko.
Wie reagiert man auf die aktuellen Gesellschaftsdebatten?
Die bereits im Juni 2019 begonnenen Vorbereitungen mussten kurz vor dem Start der Proben wegen der Corona-Pandemie unterbrochen werden. Es wurde letztendlich entschieden, die Veranstaltung nicht aufs nächste Jahr zu verschieben, sondern das Projekt neu zu überdenken und in digitaler Form zu gestalten. In kürzester Zeit suchten die internationalen Künstler nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und Ideen für ihre digitalen Beiträge. "Wie sehen für uns eine starke Zivilgesellschaft, ein solidarisches Miteinander, zukunftsrelevante Werte und demokratische Systeme aus? Wie können wir uns als Theaterschaffende also - auch in Zeiten eines globalen Lockdowns und ohne Begegnungen im öffentlichen Raum - weiter vernetzen und langfristige, transkulturelle Initiativen aufbauen, um künstlerisch auf die aktuellen Gesellschaftsdebatten zu reagieren?", sind einige der Fragen, denen sich das Berliner Festival in den nächsten Tagen widmen wird.
"Die neue Realität hat nicht nur das Format (von live zu online), sondern auch unsere Sicht auf Europa, das Ost-West-Verhältnis, die schöpferische Arbeit am Theater und auf die Teilnahme an einem internationalen Projekt in Zeiten der Krise verändert", sagt die rumänische Autorin und Regisseurin Gianina Carbunariu, Intendantin des Theaters der Jugend ("Teatrul Tineretului") in Piatra Neamt, eine Stadt im Nordosten Rumäniens. Ihr Beitrag "Postwest – something digital" ist ein Video-Essay, beziehungsweise eine Collage aus mehreren Aspekten der rumänischen, aber auch der Ost-West-Realität, die sie künstlerisch hinterfragt. Gianina Carbunariu, eine der stärksten Stimmen des rumänischen Theaters, deren erfolgreiche Stücke und Regiearbeiten mittlerweile an vielen deutschen Bühnen gezeigt wurden, hat eine Vorliebe für soziale und politische Themen. Die unwürdigen Arbeitsbedingungen der osteuropäischen Arbeiter - sei es auf Spargel- oder Erdbeerfeldern, auf Baustellen, in der Fleischindustrie oder der Altenpflege, sind ihr schon lange ein Dorn im Auge. Sie hat sie in vielen ihrer Stücke thematisiert.
"Wenn wir ernsthaft mehr als nur Sonntagsreden wollen"
So zum Beispiel in "Sprechen Sie Schweigen?", einer Produktion des Nationaltheaters Sibiu (Deutsch: Hermannstadt). Das Theaterstück entstand nach unzähligen Gesprächen, die sie in Deutschland mit rumänischen Arbeitern aus unterschiedlichen Bereichen geführt hat. "Unabhängig von der jeweiligen Branche sind es dieselben Ausbeutungsmechanismen. Von moderner Sklaverei zu sprechen ist keine Übertreibung, vor allem, wenn es um Saisonarbeit geht. Es sind keine Ausnahmen, sondern, im Falle dieser Arbeiter, ist die menschenunwürdige Behandlung von Seiten der Unternehmen und Subunternehmen die Regel - sowohl was die Arbeits-und Lohnbedingungen als auch die Unterkünfte betrifft", betont die rumänische Theaterautorin.
Grund dafür seien nur "die Gier und die Verachtung der menschlichen Würde". Alles nichts Neues, bemerkt Carbunariu, doch "erst durch diese Pandemie und den dadurch entstandenen Bruch im System wurde eine bereits existierende erschreckende Realität ganz deutlich sichtbar". Auch darüber wird die rumänische Künstlerin am 26. Juni im Rahmen des Festivals sprechen - mit Menschen, die sich online live am Gespräch beteiligen möchten: "Es erscheint mir wichtig zu zeigen, dass dieses Problem uns alle betrifft - wenn wir ernsthaft wollen, dass unsere Debatten zum Thema Europäische Solidarität und Achtung der Menschenrechte mehr als nur Sonntagsreden sind."
Die Kunst als "Hammer", um die Gesellschaft zu verändern
Spannend zu werden versprechen auch andere Vorschläge der Theaterschaffenden aus Ost und West. So etwa der Beitrag aus Pristina/Kosovo "The Return of Karl May". Der berühmte Protagonist Kara Ben Nemsi "flieht mit einer Gruppe von Schauspielern aus dem Osten in Richtung deutscher Lande" und trifft, auf dieser ungewöhnlichen Reise unter anderem auf Slavoj Zizek, Peter Handke und ein Mitglied des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). "Das Stück konfrontiert sein Publikum mit der dämonisierenden Haltung Westeuropas gegenüber dem Osten. Laut Aleksandar Hemon ist die vermeintliche kulturelle, politische und intellektuelle Überlegenheit des Westens tief in dessen Kolonialismus und Rassismus verwurzelt", so der Hinweis im Programm des Festivals.
Sehr aktuell und passend zum Thema Arbeit und Austausch im virtuellen Raum in Corona-Zeiten ist auch der polnische Beitrag: "Your Internet Connection Is Unstable". Der deutsche Beitrag "Hammer und Spiegel" versetzt den Zuschauer in eine Zukunftsvision, in der es im Jahr 2321 "nicht mehr um politische Streitereien, sondern um private Ängste und Wünsche geht". Der Titel bezieht sich auf ein Zitat von Karl Marx, wonach die Kunst kein Spiegel sei, den man der Wirklichkeit vorhält, sondern ein "Hammer", um sie zu gestalten.