Schwule fliehen in die USA
12. April 2014"Es war ein fürchterlicher Unfall", erinnert sich Alex Kovkov im Gespräch mit der Deutschen Welle. Er ist so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus seinen Namen nicht mehr nennen kann. Doch das medizinische Personal verweigert die Notversorgung. Noch nicht einmal ein Glas Wasser hat man für ihn. Es klingt wie ein Alptraum, aber für den heute 33-jährigen Russen war es die Realität.
Ärzte verweigern medizinische Notversorgung
Am Steuer seines Mercedes war Kovkov zuvor in überhöhtem Tempo gegen eine Wand gerast. Mit Schädeltrauma und tiefen Schnittwunden wird er in das renommierte Moskauer Sklifosovski Institut für Notfallmedizin eingeliefert. Doch dort erhält er alles andere als Erste Hilfe: "Wir brauchen hier keine HIV-Infizierten in unserer Klinik", wird dem Hilfesuchenden harsch beschieden, nachdem er zuvor in Sorge um das medizinische Personal seine Infektion offenbarte. Kovkov hört noch, wie sie "geh nach Hause" rufen und findet sich irgendwann später in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses wieder. Auch dort passiert nichts. Der am ganzen Körper Blutende bleibt mehrere Stunden sich selbst überlassen, bis er sich schließlich aus eigener Kraft auf die Straße schleppt und mit einem Taxi nach Hause gelangt.
"Ihr seid Schwindler, sterbt!"
Im März 2013, wenige Monate vor seinem Unfall, wird Kovkov gemeinsam mit einem Freund in der Moskauer Metro von zwei Unbekannten verprügelt. Aus der Unterhaltung der beiden hatten die Täter entnehmen können, dass sie homosexuell sind. "Ihr seid Schwindler und eine Schande für unser Land, sterbt!", brüllen die Männer, während sie versuchen, Kovkov den Arm eines Feuerlöschers ins Auge zu halten und abzudrücken. Doch Kovkov hat Glück. Der Feuerlöscher funktioniert nicht. "Sie entschieden sich dann, auf uns damit einzudreschen", erzählt er mit einem bitteren Lachen. Während sein Freund wie paralysiert den Schlägen ausgesetzt ist, aus dem Mund blutet und am Hals schwer verletzt wird, versucht Kovkov das Schlimmste zu verhindern. "Es waren ungefähr 20 Menschen im Metrowagen. Aber sie unternahmen gar nichs. Sie schauten zu, wie Schwule verprügelt werden."
Polizei ermittelt nicht
Als die beiden endlich aus der Metro fliehen können, melden sie den Überfall der Polizei. Doch die Beamten weigern sich, den tätlichen Übergriff in einen Zusammenhang mit Homophobie zu bringen. Der Hinweis, so ein Verbrechen gebe es nach russischem Gesetz gar nicht, wirkt wie Hohn auf die beiden Männer. Sie werden so lange unter Druck gesetzt, bis sie schließlich unterschreiben, dass sie ohne ersichtlichen Grund überfallen worden seien.
Für Tanya Cooper von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) ist das ein vertrautes Verhaltensmuster. Das sogenannte "Propaganda-Gesetz" vom Juli 2013, das bereits das Sprechen über gleichgeschlechtliche Liebe im Beisein von Kindern unter Strafe stellt, hat die ohnehin prekäre Situation der russischen Schwulen und Lesben noch weiter verschlechtert. "Sie sind zunehmend Gewalt ausgesetzt", sagt Cooper, die für HRW in Moskau arbeitet. "Die Polizei macht klar, dass sie bei Attacken gegen Schwule nicht ermittelt. Sie meinen, die Schwulen seien selber schuld, dass sie sich und ihre Homosexualität zeigen." Der fehlende Schutz durch die russischen Behörden mache der LGBT-Community (Lesbian, Gay, Bisexual und Trans: also Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) die Ausweglosigkeit ihrer Situation klar. "Und genau deswegen sehen sich viele Schwule aus Russland und auch schwule Aktivisten gezwungen, in anderen Ländern Asyl zu suchen."
Nach Jahren voller Angst, Gewalt und Kampf reist Alex Kovkov schließlich am 5. März in die USA ein. Es ist kurz vor seinem 33. Geburtstag, und für den Anwalt aus Moskau muss es wie eine Wiedergeburt gewesen sein, endlich dort anzukommen, wo er frei atmen und seine Meinung sagen kann, wo er nicht wegen seiner sexuellen Orientierung oder seiner HIV-Infektion verfolgt, verprügelt und in lebensgefährliche Situationen gebracht wird.
Die Menschenrechtsorganisation Spectrum kümmert sich und unterstützt ihn auch bei seinem Asylantrag. Alex Kovkov hat als gelernter Jurist alles dokumentiert. Er brachte beide Vorfälle in detaillierten juristischen Schriftsätzen zur Anzeige und verschickte sie an einen großen Verteiler. Ohne Erfolg.
Mobbing bei einer Gazprom-Tochter
Den ausführlichsten Schriftsatz hat er verfasst, nachdem er im Februar 2014 seinen gut dotierten Arbeitsplatz bei der Gazprom-Tochter GPB EnergoEffect verloren hatte. Er war dorthin im Dezember 2011 abgeworben worden, um eine neue Rechtsabteilung aufzubauen.
In Briefen an den Generaldirektor und das Topmanagement des Unternehmens dokumentierte er seine jahrelange Diskriminierung am Arbeitsplatz, die sich schließlich zu einem unerträglichen Mobbing steigerte. Sein Mut mag ihm jetzt zugute kommen, denn eine Diskriminierung wegen sexueller Orientierung kann damit relativ leicht nachgewiesen werden.
Mehr Asylsuchende
Es gibt keine offiziellen Zahlen, wie viele russische Schwule und Lesben zur Zeit in den USA um Asyl nachfragen. Doch Organisationen wie Spectrum, Human Rights Watch oder Immigration Equality bestätigen gegenüber der Deutschen Welle, dass seit dem Inkrafttreten des "Propaganda-Gesetzes" das Interesse an Informationen und Unterstützung rapide angestiegen sei und sich mehr als verdoppelt habe. Spectrum betreut zur Zeit 16 Russen hier in den USA, Immigration Equality hat 44 Asylanträge auf dem Schreibtisch liegen, doppelt so viele wie vor der Verabschiedung des Gesetzes.
Die Zahlen mögen gering erscheinen, doch laut Aaron Morris, dem Justitiar von Immigration Equality, konzentriere man sich aus Kapazitätsgründen auf jene Fälle, die besonders krass und eindeutig seien. "Wir haben noch keinen Fall verloren", sagt er.
Generell gelte: Wer der LGBT-Community in Russland angehöre und in den USA Asylantrag stelle, der habe gute Chancen.
Nie wieder zurück nach Russland
In öffentlichen Aktionen versuchen die meist jungen Russen, auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Zuletzt demonstrierten sie vor dem Weißen Haus. Sie seien in ihrer Heimat bedroht oder zusammengeschlagen worden, erzählen sie Passanten. Viele verloren auch ihre Arbeit. Belastend ist die unsichere Zukunft. Werden sie hier bleiben können?
Alex Kovkov weiß noch nicht, wie über seinen Antrag entschieden wird. Er weiß nur eines: Er will nie wieder zurück nach Russland.