Russland: Geschichtsbuch rechtfertigt Krieg gegen Ukraine
11. August 2023"Die Kapitel über die 1970er, 80er, 90er und Nuller Jahre wurden komplett überarbeitet und prinzipiell neu geschrieben und ein Abschnitt von 2014 bis heute - einschließlich der speziellen Militäroperation - hinzugefügt", sagte Wladimir Medinskij, Berater des russischen Präsidenten, während einer Pressekonferenz bei der Nachrichtenagentur "Interfax" zur Vorstellung eines neuen Lehrbuchs. Als spezielle Militäroperation wird in Russland der Krieg gegen die Ukraine bezeichnet.
Der ehemalige Kulturminister ist neben dem Rektor des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen, Anatolij Torkunow, und dem wissenschaftlichen Direktor des Instituts für Weltgeschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Aleksandr Tschubarjan, einer der Autoren des neuen Lehrbuchs für Geschichte.
Worum geht es im neuen Geschichtsbuch?
Ab dem 1. September werden in allen russischen Schulen aktualisierte einheitliche Geschichtsbücher für die Klassen zehn bis elf verwendet. Im Laufe des Jahres 2024 sollen vom gleichen Autorenteam auch neue Lehrbücher für die Klassen fünf bis neun erstellt werden. Im neuen "Medinskij-Buch" wird das Kapitel über die Gegenwart durch die Ereignisse im Donbass und die Minsker Abkommen ergänzt und es endet mit der sogenannten "speziellen Militäroperation".
Die Autoren des Lehrbuchs verfolgen die These, wonach es die "feste Idee des Westens ist, die Lage innerhalb Russlands zu destabilisieren". Sie bauen Absatz für Absatz eine Kette von Ereignissen auf, die Russlands Invasion der Ukraine rechtfertigen sollen: vom Zerfall Jugoslawiens, wonach das "Szenario der Zerstückelung Russlands bereits von der NATO am Beispiel Jugoslawiens erarbeitet ist", über die Ereignisse in Georgien, wonach "das proamerikanische Regime von Präsident Michail Saakaschwili Südossetien angegriffen hat, das seit Jahrhunderten mit Russland in Freundschaft und gemeinsamer Geschichte verbunden ist", über die Zerstörung sowjetischer Gedenkstätten in Osteuropa, das "Wiederaufleben des Nationalsozialismus" in den baltischen Ländern und schließlich die Entstehung des "ukrainischen Neonazismus".
Dabei handele es sich, so die Autoren, um "erbitterte nationale, sprachliche und kulturelle Gewalt einer aggressiven Minderheit gegenüber der Mehrheit". Das Lehrbuch will zudem vermitteln, dass das Ziel jeder Zusammenarbeit der Länder Europas und der USA mit der Ukraine "nicht eine starke Ukraine, sondern ein schwaches Russland" sei und die "derzeitige ukrainische Junta" mit dem "blutigen bewaffneten Aufstand von 2014" an die Macht gekommen sei. Die Autoren des Lehrbuchs verweisen ferner auf den Wunsch der Ukraine, der NATO beizutreten. Dies ist ihnen zufolge der letzte Punkt auf dem Weg zur sogenannten "speziellen Militäroperation". Hier greifen sie zu propagandistischem Pathos: "Das wäre wahrscheinlich das Ende der Zivilisation. Das darf nicht zugelassen werden."
Als Ziel der sogenannten "speziellen Militäroperation" nennen die Autoren "den Schutz des Donbass und die proaktive Gewährleistung der Sicherheit Russlands". Die Geschichte der Gegenwart endet im Lehrbuch mit Informationen über "Fakes", "ausländische Agenten" und einem ausführlichen Abschnitt über die "Helden der speziellen Militäroperation".
Laut Medinskij enthält das neue Lehrbuch "deutlich weniger Zahlen, Daten, trockene Statistiken, dafür mehr Geschichten über Menschen und mehr über konkrete reale Ereignisse". Und tatsächlich unterscheidet sich die Sprache, in der das Buch verfasst ist, grundlegend vom Stil, der im Bildungswesen üblich ist. Es ist keine wissenschaftliche Sprache über trockene Fakten und historische Realitäten, sondern der Stil appelliert an Emotionen und Gefühle. Zunehmend findet man im neuen Lehrbuch statt "Russland" oder "Russen" die Ausdrücke "Wir" und "Unser Land". Die Autoren legen keine Fakten dar, sie appellieren vielmehr und rufen auf: "Ihr seid schon erwachsen, liebe Gymnasiasten!", "Lasst euch diese Chance nicht entgehen!", "Russland ist heute wirklich ein Land der Möglichkeiten".
Ideologie und Propaganda
Konstantin Pachaljuk, russisch-israelischer Historiker und Politikwissenschaftler, war vor dem Krieg gegen die Ukraine selbst an der Erstellung von Geschichtsbüchern in Russland beteiligt. "Ich habe in einem der Lehrbücher ein Kapitel über den Ersten Weltkrieg geschrieben. Aber er wurde redaktionell überarbeitet und in eine patriotische Agitation verwandelt. Mit großem Aufsehen musste ich einige Punkte verteidigen", sagt er.
Historiker wundern sich schon lange nicht mehr über die Ideologisierung von Lehrbüchern in Russland. "In Geschichtsbüchern dreht sich ständig alles um Ideologie. Wir reagieren so heftig darauf, weil wir sehen, dass sie den Leitartikeln der Propaganda-Medien folgen, aber nicht immer ganz richtig oder auch völlig falsch", sagt der Historiker Sergej Tschernyschow, ehemaliger Leiter des "Novocollege", einer Hochschule in Nowosibirsk.
Geschichtsbücher, die bisher in russischen Schulen verwendet wurden, enthielten bereits Kapitel über die Krim, Sanktionen und andere Ereignisse der Gegenwart. So ist beispielsweise im Lehrbuch für die Klassen zehn bis elf im Abschnitt über die Geschichte Russlands in den Jahren 2012 bis 2020 von der "Wiedervereinigung der Krim mit Russland" als Reaktion auf die Machtübernahme in Kiew durch "radikale Nationalisten" die Rede. Nur kurz erwähnt werden die darauf folgenden Sanktionen und das Referendum über Verfassungsänderungen im Jahr 2020. Mit dem "Volksentscheid" wurde die größte Verfassungsreform in der Geschichte Russlands beschlossen. Sie sichert dem russischen Staatschef Wladimir Putin faktisch die politische Macht über 2024 hinaus.
Historiker halten die Tatsache, dass aktuelle Ereignisse Gegenstand der Geschichtswissenschaft geworden sind, für unangebracht. "Diese Vorgehensweise, wo heutige Ereignisse in die Geschichtsbücher aufgenommen werden, ist keine gängige Praxis. Das wird von vielen Historikern kritisiert. Die Gegenwart ist nicht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Es sollte eine historische Distanz gegeben sein. Vielleicht will die Staatsmacht deshalb Geschichte und Gegenwart kombinieren, damit die Gegenwart so stabil erscheint wie die Geschichte", sagt der Historiker Konstantin Pachaljuk. Seiner Meinung nach will die russische Regierung, indem sie heutige Ereignisse in Schulbücher aufnimmt, nur die Grenze zwischen Geschichte und Propaganda verwischen.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk