Womit Russland unerwartet scheiterte
26. Dezember 2022Als Russland vor rund einem Jahr seine Truppen entlang der Grenze zu Ukraine zusammenzog, glaubten viele Experten und Politiker im Westen, Kiew würde im Falle einer Invasion innerhalb weniger Tage fallen. Auch in Russland selbst war das offenbar die Annahme. Zwar rückten russische Truppen in den ersten Kriegstagen bis an den Stadtrand der Hauptstadt vor, wurden jedoch von der ukrainischen Armee gestoppt und zum Abzug gezwungen. Die Fehleinschätzungen hallen bis heute nach. Der russische Präsident Wladimir Putin gibt das nicht direkt zu, stellte sein Land Anfang Dezember auf einen langen Krieg ein.
Keine russische Lufthoheit
Es gab mehrere Erwartungen, die sich nach dem Einmarsch im Februar 2022 nicht bewahrheitet haben. So rechneten viele damit, dass Russland sehr schnell sowohl die ukrainische Luftwaffe, als auch die Luftabwehr ausschalten und damit völlige Lufthoheit übernehmen würde. Grund für diese Annahme waren möglicherweise Erfahrungen in der Ostukraine. Als im Kohlerevier Donbass 2014 der Krieg ausbrach, bei dem Russland seine Beteiligung bestritten hatte, verlor die Ukraine in den ersten Monaten viele Flugzeuge und Hubschrauber und setzte die gebliebenen Maschinen nicht mehr ein. Die ukrainische Luftwaffe war praktisch ausgeschaltet.
Ganz anders ist es seit dem Einmarsch. Die Meldung des Verteidigungsministeriums in Moskau vom 28. Februar, wonach Russland die Lufthoheit über dem ganzen Gebiet der Ukraine hätte, erwies sich als falsch. Es bleibt zwar so, dass die russische Luftwaffe der ukrainischen zahlenmäßig und technisch deutlich überlegen ist. Doch trotz zahlreicher Raketenangriffe auf Militärflughäfen und Kampfeinsätze an der Front verfügt die Ukraine bis heute über intakte Kampfflugzeuge und Hubschrauber. Auch ihre Luftabwehr wird immer stärker.
Seit Kriegsbeginn verlor Russland nach ukrainischen Angaben hunderte Flugzeuge und Hubschrauber. Diese Angaben können nicht unabhängig bestätigt werden und doch weisen auch westliche Geheimdienste auf hohe Verluste bei der russischen Luftwaffe hin. Sie operiert eingeschränkt an der Frontlinie und wagt sich nicht mehr tief ins Landesinnere. Stattdessen setzt Russland verstärkt Drohnen und Raketen ein, die jedoch von der ukrainischen Luftabwehr immer besser abgefangen werden. Das alles verdankt Kiew westlicher Hilfe.
Schwarzmeerflotte als Verlierer
Auf See ist Russland der Ukraine ebenfalls deutlich überlegen. Im Jahr 2021 trainierte Moskau zweimal Truppenlandungen auf der annektierten Krim. Das weckte Befürchtungen, Russland würde im Süden der Ukraine eine Offensive Richtung Odessa starten und große Truppenverbände inklusive Schützenpanzer mit Kriegsschiffen an Land bringen. Das ist bisher nicht passiert und in Fachkreisen geht man momentan nicht davon aus. "Amphibische Landungen sind sehr riskant", sagte der britische Experte Marc de Vore von der University of St Andrews der DW. "Das verlangt eine deutliche Übermacht an Möglichkeiten." Russland habe offenbar nach Landungsmöglichkeiten gesucht und doch nichts Passendes gefunden, keinen "ungeschützten Strand".
Zu Beginn der Invasion zog Russland Kriegsschiffe vor Odessa zusammen. Damals gelang es russischen Truppen, die kleine und strategisch wichtige Schlangeninsel südwestlich von Odessa zu besetzen. Doch Ende Juni konnte die Ukraine sie mit gezielten Artillerieangriffen vertreiben.
Die russische Schwarzmeerflotte erwies sich bisher als einer der größten Verlierer des Krieges. Ihr Flaggschiff, der Raketenkreuzer "Moskwa", wurde im April mit ukrainischen Raketen beschossen, beschädigt und sank später. Bereits zuvor, im März, wurde das Landungsschiff "Saratow" im Hafen von Berdjansk am Asowschen Meer von einer ukrainischen Rakete getroffen und war anschließend untergegangen. Das Ergebnis: Kriegsschiffe der Schwarzmeerflotte halten größeren Abstand zur Küste, die von Kiew kontrolliert wird. Auch auf dem Stützpunkt Sewastopol sind sie nicht mehr sicher. Die Ukraine attackierte mit Drohnen sowohl das Hauptquartier, als auch die Schiffe dort. Außer Gefecht ist die Schwarzmeerflotte jedoch nicht. Ihre Schiffe greifen die Ukraine immer wieder mit Marschflugkörpern an - aus sicherer Entfernung.
Vor diesem Hintergrund gab Russland seine Seeblockade der ukrainischen Häfen auf. Offiziell, um den von der Türkei und der UN vermittelten Getreidedeal möglich zu machen. Nach dem Angriff auf russische Kriegsschiffe Ende Oktober stieg Moskau aus dem Deal aus - und dann wieder ein. Man habe von Kiew "Garantien" bekommen, dass die Schwarzmeerflotte nicht aus einem bestimmten "Korridor" angegriffen werde, so Moskau.
Starke Cyberabwehr dank westlicher Hilfe
Schließlich wurde vor dem Einmarsch befürchtet, Russland würde mit massiven Hackerangriffen die Ukraine lahmlegen. Diese Befürchtungen hatten einen Grund, denn die Ukraine wurde seit Jahren immer wieder digital angegriffen. Rund eine Woche vor dem russischen Einmarsch, am 15. Februar, gab es einen massiven Hackerangriff, den der zuständige ukrainische Minister Mychajlo Fedoriw als "die größte DDoS-Attacke in der Geschichte der Ukraine" beschrieb. DDoS-Angriffe sind künstliche Anfragen im Internet, die Webserver des Opfers überlasten. Betroffen waren unter anderem mehrere Banken, sowie das Verteidigungsministerium. Auch am Tag vor der Invasion gab es Hackerangriffe auf Regierungsstrukturen und das Parlament, die Russland zugeschrieben wurden.
Doch Kiew schien darauf gut vorbereitet zu sein. Danach hat es auch Hackerangriffe gegeben, doch waren diese, anders als in den Jahren davor, weniger erfolgreich. Teile der kritischen Infrastruktur, etwa das Stromnetz, sind jedenfalls gerade nicht wegen Hackerangriffe gestört, sondern wegen Raketenangriffen.
Auch in diesem Fall zahlte sich aus, dass der Westen seit Jahren der Ukraine geholfen hatte, ihre Cyberabwehr zu stärken. Wenige Tage vor dem Einmarsch stellte zum Beispiel die EU auf Anfrage der Ukraine sein Cyber-Rapid-Response-Team (CRRT) zur Verfügung. Momentan scheint es, als würde die Russland zugeschriebene digitale Kriegsführung genauso stocken, wie die auf dem Schlachtfeld. Westliche Experten rechnen allerdings mit immer mehr Hackerangriffen in den Wintermonaten.