Russlands riskante Syrienpolitik
30. September 2016Welche Ziele verfolgt Russland wirklich in Syrien? Auf diese Frage sind viele Antworten gegeben worden, seit Präsident Wladimir Putin sich mit Kriegsbeginn vor über fünf Jahren an die Seite des syrischen Regierungschefs Baschar al-Assad gestellt hat. Und erst recht, seit Moskaus Luftwaffe vor einem Jahr eingegriffen hat. Doch keine Antwort kann den massiven Einsatz befriedigend erklären, die hohen finanziellen, militärischen und diplomatischen Kosten, die Russland auf sich nimmt, um Assad zu stützen.
Was es gibt, sind Vermutungen: Putin wolle seinen einzigen Mittelmeerzugang im syrischen Hafen Tartus erhalten. Er wolle demonstrieren, dass er - egal wo - allen Aufständen und Unruhen in der Zivilgesellschaft entgegentritt. Mit der Unterstützung des Diktators Assad wolle er auch ein entsprechendes Signal an oppositionelle Strömungen im eigenen Land senden. Putin wolle die formaljuristische Ordnung eines Partnerlandes, so wie er sie wahrnimmt - Assad sei Syriens gewählter Präsident -, nicht in Frage gestellt sehen. Er ziele auf politische Stabilität im Nahen Osten. Moskau wolle seine Bündnistreue beweisen. Es wolle verhindern, dass Dschihadisten sich von Syrien aus nach Russland und in seine Nachbarstaaten ausbreiten. Und vor allem wolle Putin den Ruf Russlands als Weltmacht wiederherstellen.
Im Verlauf der Jahre setzte sich in erster Linie die letzte Deutung durch: Putin möchte sich als ebenbürtig gegenüber der seit 1989 einzig verbliebenen Supermacht USA erweisen. Es gehe Moskau nicht um das reale Syrien, schreibt der politische Analyst und Essayist Salama Kila in der Tageszeitung "Al Araby al-Jadeed": "Russland will Syrien als Symbol, als Land, das es in der Wirklichkeit nicht gibt." Die politischen Ziele, auf die Russland sich berufe, seien längst hinfällig geworden, allen voran der Anspruch, Syrien als Staat zu erhalten. "Gibt es in Syrien noch einen starken und stabilen Staat, der darauf hoffen kann, auch in Zukunft noch zu existieren?" Definitiv nicht, betont Kila.
Bomben gegen Zivilisten
Vor einem Jahr nahm Russland seine Luftangriffe in Syrien auf. Gerichtet waren und sind sie gegen alle, die die Regierungen in Moskau und Damaskus als Terroristen definieren. Darunter versteht Assad grundsätzlich alle Oppositionellen. Nach den massiven Luftangriffen zu urteilen, hat Moskau diese Definition offenbar de facto übernommen. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind allein durch die russischen Bomben knapp 9500 Menschen gestorben, darunter 3800 Zivilisten, 900 von ihnen Kinder. Die Beobachtungsstelle ist der säkularen Opposition verbunden. Ihre Aussagen, gestützt auf ein Informationsnetz in Syrien, gelten als weitgehend verlässlich.
Russlands offener Eintritt in den Krieg ist im Westen stark kritisiert worden - auch in Deutschland. So bezeichnete der grüne Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour in einem Interview im Deutschlandfunk Russlands Vorgehen als "Kriegsverbrechen": "Wer Bunkerbrecher auf Wohnhäuser wirft, begeht Kriegsverbrechen."
Nouripour warf den Regierungen in Damaskus und Moskau vor, gegen den - von säkularen wie von dschihadistischen Rebellen gehaltenen - Ostteil der umkämpften Millionenstadt Aleppo mit rücksichtsloser Härte vorzugehen: "Der Luftraum über der Stadt ist eindeutig in der Hand dieser beiden Streitkräfte. Und die werfen die Bomben auf Wohngebiete. Und zwar in einer Art und Weise, wie wir das in den letzten fünfeinhalb Jahren bei den ganzen Grausamkeiten noch nicht gesehen haben."
Washingtons Unentschlossenheit
Auch nach dem jüngst gescheiterten Waffenstillstand hat Russland die Angriffe gegen Rebellen wieder aufgenommen. Außenminister Sergej Lawrow verteidigte das in einem Interview mit der britischen BBC. Moskau sei dazu gezwungen, erklärte er. Die US-Amerikaner hätten es entgegen ihren Versprechen nicht vermocht, die gemäßigten von den extremistischen Rebellen zu trennen. Diese hätten den Waffenstillstand zudem missbraucht. Es habe bereits mehrere Waffenruhen gegeben. "Und jede dieser Pausen hat die (radikalislamistische, d. Red.) Nusra-Front dazu genutzt, aus dem Ausland mehr Kämpfer, mehr Munition und mehr Waffen herbeizuschaffen."
Den USA warf Lawrow zudem einen unklaren, zögerlichen Kurs vor. Washington habe die Kontrolle über die Ereignisse verloren, so Lawrow. Das Argument sei politisch nachvollziehbar, schreibt die BBC: "Die USA haben keine Alternative zu dem Ansatz von Außenminister John Kerry, mit den Russen zusammenzuarbeiten. Sie haben keinen glaubwürdigen Plan B."
Wohin der russische Kurs letztlich führen wird, ist offen. Die Kosten des Krieges seien gewaltig und den Preis zahle die russische Bevölkerung, argumentiert der Sicherheits- und Nahostexperte Philip Gordon vom Council on Foreign Relations in Washington. Und Assad werde nach fünf Jahren Krieg und dem Tod von über 100.000 Regierungssoldaten keine Kraft mehr haben, über das gesamte syrische Staatsgebiet zu herrschen, selbst wenn er Aleppo zurückerobere. "Nach all der tödlichen Gewalt bleibt Syrien dennoch ein überwiegend sunnitisches Land, und viele Sunniten werden weiterhin gegen das (alawitische, d. Red.) Regime kämpfen - unterstützt und bewaffnet von den Saudis, Türken und Katarern." Das könne auch für Russland gefährlich werden, warnt Gordon: "Putins flächendeckende Massaker an Zivilisten in Syrien könnten sehr wohl dazu führen, dass aufgebrachte Muslime Terroranschläge gegen Russland begehen."