Ukraine: Was sich jetzt für Deutschland ändert
28. Februar 2022Es herrscht wieder Krieg in Europa: Das hat viele Menschen in Deutschland völlig überrascht. Die Politik dachte nicht mehr in den Kategorien von Krieg und Militär-Strategien. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine dürfte sich einiges ändern.
Aufrüstung
Schon das Wort Aufrüstung war jahrzehntelang in Deutschland eher negativ besetzt. Wer aufrüstete, galt schnell als Kriegstreiber. Das hat sich binnen weniger Tage gewandelt. Bundeswehr-Offiziere hatten immer wieder über mangelhaftes Gerät geklagt: Hubschrauber, die nicht fliegen, Panzer, die nicht fahren, Schiffe, die nicht auslaufen können. In friedlichen Zeiten stießen sie damit meist auf taube Ohren. In schonungsloser Offenheit hat jetzt Heeresinspekteur Alfons Mais bei Kriegsbeginn notiert: "Die Bundeswehr steht mehr oder weniger blank da."
Jetzt soll sie aufgerüstet werden, und zwar massiv. Mit einem hundert Milliarden schweren "Sondervermögen Bundeswehr" sollen die Streitkräfte auf Vordermann gebracht werden. Das kündigte Olaf Scholz in einer Regierungserklärung an.
Neuausrichtung der Bundeswehr
Was genau mit dem vielen Geld angeschafft wird, darüber werden Strategen nun beraten. Gedacht wird zum Beispiel an die Entwicklung neuer Panzer und Kampfflugzeuge zusammen mit europäischen Partnern, vor allem mit Frankreich.
Fest steht, dass sich die Bundeswehr umorientieren wird, denn die Kriege rücken räumlich näher an Deutschland heran. Vor zwanzig Jahren hatte der damalige SPD-Verteidigungsminister Peter Struck gesagt: "Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt." Es war der Beginn des Afghanistan-Einsatzes, und die Bundeswehr zog in immer mehr Einsatzgebiete fernab des eigenen Territoriums.
Jetzt ist die Afghanistan-Mission seit einem halben Jahr Geschichte, das Ende der Mali-Mission zeichnet sich ebenfalls ab - gleichzeitig warnt Verteidigungsministerin Christine Lambrecht: "Das Bündnisgebiet der NATO ist bedroht und es ist nicht absehbar, wie weit Putin mit seiner Aggression gehen wird."
Verteidigungsausgaben
Die hundert Milliarden Euro für die Streitkräfte sind einmalig. Aber die Verteidigungsausgaben sollen dauerhaft steigen. Seit vielen Jahren liegen die NATO und vor allem die Führungsnation USA der Berliner Regierung in den Ohren, sie solle die Verteidigungsausgaben erhöhen. Die NATO-Staaten haben sich selbst das Ziel gesetzt, jeweils zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben, mindestens.
Deutschland liegt mit rund 1,5 Prozent weit darunter, lange Zeit war es noch weniger. Vor allem SPD, Grüne und Linkspartei haben das Zwei-Prozent-Ziel immer abgelehnt. Auch im Koalitionsvertrag der Ampelregierung steht nichts darüber. Jetzt hat Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigt, das Ziel sogar zu übertreffen. Deutschland werde "von nun an - Jahr für Jahr - mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren".
Waffen für die Ukraine
Deutsche Waffen in Konfliktgebiete, das war ein Tabu, vor allem für die Grünen. Zwar tragen auch die Grünen, die aus der Friedensbewegung der 80er Jahre kommen, längst Friedensmissionen der Bundeswehr mit. Sie haben sich aber immer für eine sehr restriktive Waffenexportpolitik eingesetzt. Mit dieser Tradition brach allerdings bereits im vergangenen Jahr der Grünen-Politiker und heutige Wirtschaftsminister Robert Habeck, als er nach einem Ukraine-Besuch ins Gespräch brachte, dem Land Defensivwaffen zu liefern und damit viel Staub aufwirbelte.
Das Angebot von 5000 Stahlhelmen war bis vor wenigen Tagen das Äußerste, zu dem sich die Bundesregierung durchringen konnte. Jetzt werden doch Waffen in die Ukraine geliefert, darunter 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Flugabwehrraketen. "Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben", hat Bundeskanzler Scholz dazu gesagt. Und die grüne Außenministerin Annalena Baerbock betonte im Bundestag, bei aller nach wie vor gebotenen Zurückhaltung in der Waffenexportpolitik, dürfe man die Ukraine "nicht wehrlos dem Aggressor überlassen, der Tod und Verwüstung über dieses Land bringt".
Weniger Abhängigkeit von russischem Gas und Öl
Deutschland ist viel abhängiger von russischen Energielieferungen, als es der Bundesregierung lieb sein dürfte. Bei Erdgas steht Russland für mehr als die Hälfte, bei Erdöl für mehr als 30 Prozent der Importe. Beides soll stark gedrosselt werden. Aber das braucht Zeit. Zwar will die Bundesregierung ohnehin die erneuerbaren Energien deutlich ausbauen, allerdings gleichzeitig aus der Kohleverstromung und der Kernkraft aussteigen.
Das Problem: Wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, sollen neue Gaskraftwerke die Energielücke füllen. Damit die Abhängigkeit von Russland beim Gas nicht noch stärker wird, sollen jetzt Schiffsterminals für Flüssiggas zum Beispiel aus den USA gebaut werden.
Außerdem denkt die Regierung daran, die noch arbeitenden Atomkraftwerke und einige Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen als ursprünglich vorgesehen. Vor allem für die Grünen ist das bitter, weil sie Nuklearenergie und Kohle möglichst früh auslaufen lassen wollen. Aber "es gibt keine Denktabus", sagt der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck.
Mehr Schulden
Die Aufrüstung, aber auch die Neuaufstellung der Energiepolitik kosten viel Geld - Geld, das der Bundeshaushalt nicht hergibt. Deshalb will die Bundesregierung weitere Schulden machen. Dabei hat Deutschland schon sehr hohe Kredite aufgenommen, um die wirtschaftlichen Schäden durch die Bekämpfung der Corona-Pandemie aufzufangen.
Ausgerechnet Finanzminister Christian Lindner von der FDP steht jetzt für diese Politik. Als Oppositionspolitiker hat er immer eine solide Haushaltspolitik angemahnt - jetzt sieht er keine andere Möglichkeit, als neue Schulden in Rekordhöhe aufzunehmen.
Ukrainische Flüchtlinge willkommen
Verhältnismäßig wenig wird sich in Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen ändern. Denn bei den starken Fluchtbewegungen ab 2015 vor allem aus dem Bürgerkriegsland Syrien hatte Deutschland bereits mit seiner Großzügigkeit Maßstäbe gesetzt, allerdings auch große Widerstände im In- und Ausland erzeugt. Diesmal hat sich Innenministerin Nancy Faeser mit ihren Amtskollegen aus der gesamten EU auf eine erleichterte Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge geeinigt - bis jetzt immer ein heftiger Streitpunkt innerhalb der EU: "Geflüchtete aus der Ukraine müssen kein Asylverfahren durchlaufen. Sie erhalten einen Schutz in der EU für bis zu drei Jahre."