Künstlerviertel im WM-Rausch
9. Juli 2014Sonnenblume, Purpur oder Harmonie heißen die Straßen der Vila Madalena. Links und rechts von ihnen stehen kleine und größere Einfamilienhäuser mit palmenbewachsenen Hinterhöfen und historische Mehrfamilienhäuser, sogenannte Sobrados. Nur ganz vereinzelt ragen Hochhäuser in den Himmel, die sonst das Erscheinungsbild von São Paulo prägen. Hinter den charmanten Fassaden vieler Adressen der Vila Madalena: Kunstateliers, Proberäume und Architekturbüros. Seit den 70er-Jahren tummelt sich hier die Bohème der Millionenmetropole.
Abends sitzen Besserverdiener und Alternative, Künstler und Touristen zusammen in Bars, trinken Bier und den brasilianischen Nationalcocktail Caipirinha, sie hören Live-Musik oder unterhalten sich. So präsentiert sich Vila Madalena den Nachtschwärmern an jedem Abend der Woche. Bis ein Uhr, dann müssen die Kneipen schließen. Nur Diskotheken und Lokale mit speziellem Schallschutz dürfen länger öffnen. Nachts und tagsüber herrscht in Vila Madalena dann die Ruhe, die Anwohner brauchen.
WM ändert den Rhythmus
Zumindest normalerweise. Doch die Weltmeisterschaft hat diesen Rhythmus vollkommen durcheinander gebracht. Schon tagsüber bevölkern Brasilianer und Touristen die Straßen, um auch die um die brasilianische Mittagszeit angesetzten Partien beim Public Viewing zu verfolgen. Die Viertelfinalpartien etwa wurden jeweils um 14 beziehungsweise 18 Uhr angepfiffen.
"Man kommt schon zu Fuß kaum durch die Straßen, so voll ist es", beklagt sich die 59-jährige Anwohnerin Gisele Farias, "mit dem Auto hat man überhaupt keine Chance, das Haus zu verlassen. Man kann nicht einmal einkaufen fahren."
Beim Viertelfinalspiel zwischen Brasilien und Kolumbien am Freitag (04.07.2014) waren die Hauptstraßen ab 10 Uhr morgens blockiert. Am Abend bevölkerten nach Angaben der Polizei 50.000 Fans die Straßen und Kneipen des Viertels. "Es ist, als wollte man zehn Liter Wasser in eine Kaffeetasse füllen", sagt Cássio Calazans.
Dauerlärm und Uringestank
Dabei kommen nicht nur Fußball-Fans: Straßenkünstler und Percussions-Gruppen, Autos mit allesübertönenden Boxen und Straßenverkäufer stürzen das Künstlerviertel in einen regelrechten Karneval außerhalb der Saison. Cristine Franco Alves ist vorübergehend zu Verwandten in einem anderen Stadtteil gezogen: "Der Lärm geht bis vier Uhr in der Frühe, ich habe mehrere Nächte nicht geschlafen, ich konnte einfach nicht mehr zuhause bleiben", berichtet die 44-Jährige.
Für die Party-Gänger ist das ein großes Fest, doch die Anwohner klagen nicht nur über den Dauerlärm: Der Alkohol- und Drogenkonsum steigt, Menschen, die es übertrieben haben, schlafen in den Hauseingängen, ein penetranter Urin-Gestank erfüllt die Luft. "Der Gestank ist unerträglich", sagt Anwohnerin Farias. Vor ihrem Haus stehen zwar zehn mobile Toiletten, doch das genüge nicht, die Leute würden überall hinmachen: an die Bäume, in die Hinterhöfe, an die Haustüren.
"Es sind andere Leute, die derzeit zum Feiern kommen", sagt Nachbarschaftsvorsitzender Calazan, "Sie konsumieren nicht in den Bars und haben keinen Respekt vor den Anwohnern, dabei ist Vila Madalena in erste Linie ein Wohnviertel."
Des einen Leid, des andern Freud
Das sieht Arnaldo Altman ganz anders. Er ist Vorsitzender des Gastronomieverbandes Abrasel und betreibt vier Lokale in der Vila Madalena: "Hier im 'Quadrilátero', dem Epizentrum der Vila, werden 90 Prozent der Gebäude kommerziell genutzt." Mit seinen Umsätzen ist Altman hochzufrieden: "Wenn Brasilien spielt, haben wir doppelt so viele Gäste wie sonst."
Im Schnitt, schätzt er, würden die Gästezahlen in São Paulo um rund 80 Prozent steigen, wenn Brasilien spielt, an anderen Spieltagen um 30 Prozent: "Wir sind selbst etwas überrascht vom Ausmaß des Ansturms."
Auch die fliegenden Händler schlagen Kapital aus dem WM-Wahnsinn: "Ich glaube, heute mache ich um die 1000 Real", sagt der 51-jährige Luis, der den Feiernden auf der Straße Bier verkauft. Eine davon ist Danubia Oliveira. Die 26-Jährige meint, die Anwohner sollten einfach mitfeiern, statt zu klagen. Sie selbst wohne in der Nähe des WM-Stadions: "Da herrscht auch das Chaos und ich beschwere mich ja auch nicht."
Polizei greift nur punktuell durch
Die Polizei lässt dem Treiben weitgehend freien Lauf. Nur einmal hat sie bisher entschieden durchgegriffen: Nach dem Achtelfinale zwischen Argentinien und der Schweiz wollten sich vor allem die argentinischen Fans die Party nicht von der Sperrstunde begrenzen lassen. Laut Polizeibericht warfen einige aufgebrachte Fans sogar Steine und Flaschen, als die Sicherheitsbeamten die Straßen für die Stadtreinigung räumen wollten. Daraufhin habe man eine Schockgranate gezündet, um die Aggressoren zu vertreiben und den Forderungen der Anwohner nachzukommen.
Die begrüßten das Durchgreifen. Ihr Vorsitzender Calazans meint, das sei schließlich die Aufgabe der Polizei. Dem stimmt auch Barbesitzer Altman zu, kritisiert jedoch die Härte des Vorgehens: "Die Polizei übertreibt es immer wieder, nicht nur hier in der Vila." Dennoch glaubt er, dass die ausländischen Fans die heißen Nächte in Vila Madalena in guter Erinnerung behalten werden: "Das wird sich weltweit herumsprechen und weit über die WM hinaus wirken."