Saudi-Arabien: Krieg gegen die schiitische Minderheit?
9. August 2017Weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit ist in Saudi-Arabien seit drei Monaten die kleine Stadt Awamiya im Osten des Landes Schauplatz heftiger Kämpfe: Satellitenbilder zeigen die Zerstörung ganzer Stadtviertel. Auf sozialen Netzwerken kursieren Bilder von Feuergefechten und zerstörten Gebäuden. Eine unabhängige Berichterstattung ist nicht möglich. Ausländische Reporter haben keinen Zugang. Zentrum der Kämpfe ist anscheinend Al-Masora, der historische Teil Awamiyas. In den engen Gassen liefern sich militante Schiiten Gefechte mit saudischen Truppen. Mindestens 15 Menschen sollen bei der Belagerung von Awamiya bislang umgekommen sein. Eingesetzt werden auch schwere Waffen. Nachdem in sozialen Netzwerken Bilder von in Kanada hergestellten gepanzerten Fahrzeugen beim Einsatz gegen Zivilisten in Awamiya aufgetaucht sind, wird in Ottawa über ein Ende kanadischer Waffenexporte nach Saudi-Arabien nachgedacht.
Zwangsumsiedlung und Abriss
Unmittelbarer Anlass des Konfliktes waren saudische Pläne, das 400 Jahre alte Zentrum von Awamiya in weiten Teilen abzureißen und dort ein Einkaufszentrum zu errichten – gegen den Willen der einheimischen Bevölkerung. Die Vereinten Nationen hatten Saudi-Arabien noch im April dringend aufgefordert, die Zwangsumsiedlungen und den Abriss der Altstadt zu stoppen. Der UN Sonderbeauftragte für kulturelle Rechte, Karima Bennoune, fürchtete die "Ausradierung dieses einzigartigen kulturellen Erbes in unumkehrbarer Weise."
Sebastian Sons zeigt sich im Interview mit der DW skeptisch, dass Riad hier Infrastrukturmaßnahmen durchführt, um die Lebensqualität der Bewohner zu verbessern. "Es scheint sich doch eher um ein Umsiedlungsprojekt zu handeln", urteilt der Nahostexperte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. "Man will die schiitische Minderheit, die dort dominant vertreten ist, zersiedeln, zersetzen, ihnen die Lebensgrundlage nehmen. Das passt in die grundsätzliche Repression und Marginalisierung der Schiiten, die vom saudischen Staat schon seit Jahrzehnten durchgeführt wird und die quasi auch Teil der Staatspropaganda ist", führt Sons aus.
Marginalisierte Schiiten im Wahabitenstaat
Repression und Marginalisierung sind die tieferen Ursachen des Konflikts. Gut zehn Prozent der rund 30 Millionen Saudis sind Schiiten. Sie leben vor allem im Osten des Landes – dort, wo auch der Großteil des saudischen Öls gefördert wird. Aber am Wohlstand des Landes haben die Schiiten kaum Anteil, genauso wenig wie am politischen Leben. Unter Druck sind sie auch, weil die sunnitische Mehrheit dem Wahabismus folgt – und der betrachtet die Schiiten als verdammungswürdige Häretiker. Zuletzt brach sich die Unzufriedenheit der religiösen Minderheit im arabischen Frühling Bahn. Damals war das kleine Awamiya ein Zentrum des Protests – vor allem, als im benachbarten Bahrain die Revolte der schiitischen Mehrheit gegen das sunnitische Königshaus mit saudischer Militärhilfe niedergeschlagen wurde. Awamiya war auch die Heimatstadt von Nimr al-Nimr. Der populäre schiitische Scheich war zur Gallionsfigur des Protestes in der Ostprovinz geworden. Seinen Einsatz für die Rechte der diskriminierten Schiiten bezahlte al-Nimr Anfang 2016 mit dem Leben: Wegen angeblichen Terrorismus wurde er hingerichtet.
Gewalt gebiert Gewalt
Die harte Hand der Regierung in Riad hat zu einer Eskalation der Gewalt geführt, sagt Ali Adubisi von der Europäisch Saudischen Organisation für Menschenrechte, ESOHR. Adubisi kommt selbst aus Awamiya, lebt aber heute als Flüchtling in Berlin. Nach dem arabischen Frühling hatte er mehrfach in saudischen Gefängnissen gegessen. Gegenüber der DW erklärt Adubisi, die Gewalt auf Seiten der saudischen Behörden mit Toten, Folterungen, unfairen Gerichtsverhandlungen habe jenen auf schiitischer Seite in die Hände gespielt, die meinten sich mit Waffengewalt verteidigen zu müssen. Mittlerweile seien 90% der Bevölkerung von Awamiya aus der Stadt geflohen oder zwangsevakuiert, schätzt Abudisi. Der Menschenrechtsaktivist spricht von einem Krieg der saudischen Regierung gegen die eigene Bevölkerung, wie es ihn in der über 80-jährigen Geschichte des Landes noch nicht gegeben habe. Da ohnehin mindestens 14 Schiiten nach laut Amnesty fragwürdigen Prozessen in saudischen Todeszellen auf das Schwert des Scharfrichters warten, ist die Neigung bei den Aufständischen gering, sich zu ergeben: Sie hätten ohnehin nur Folterung und Tod zu erwarten.
Demonstration der Stärke?
Für Andrew Hammond ist der Zeitpunkt des saudischen Vorgehens in Awamiya interessant. Der Autor eines Buches über Saudi-Arabien sieht die Demonstration vermeintlicher Stärke in Zusammenhang mit dem Erbfolgewechsel an der Spitze des saudischen Königshauses: Kürzlich war der früheren Kronprinzen Mohammed bin Najef entmachtet worden – wodurch dessen Zweig der Familie die direkte Thronfolge verliert. Neuer Kronprinz ist der Lieblingssohn von König Salman, Mohammed bin Salman. "Er präsentiert sich als starker Mann, jemand der im Innern den Schiiten Einhalt gebietet und im Ausland gegen den Iran aufsteht", analysiert Hammond, der zur Zeit an der Universität Oxford forscht. DGAP-Experte Sons stimmt insofern zu, als seiner Einschätzung nach die große Mehrheit der sunnitischen Bevölkerung hinter dem Vorgehen der saudischen Regierung steht. "Die sieht die schiitische Minderheit als Querulanten und im schlimmsten Fall als Terroristen, die vom Iran unterstützt und bezahlt werden", sagt Sons. Für den Nahost-Experten die Folge der Staatspropaganda und auch des "Schiiten-Hasses, der vom Wahabismus gepredigt wird".
Die saudische Regierung mag kurzfristig sogar Erfolg haben mit seiner Strategie von Umsiedlung und Abriss - eine Strategie die Andrew Hammond zu Folge darauf ausgerichtet ist, den Willen der lokalen Bevölkerung zu brechen. "Sie haben die Hände an so vielen Hebeln der Macht, dass sie Gemeinschaften in dieser Weise zerstören und damit durch kommen können", schätzt Hammond. Es gibt ein Beispiel dafür: In der nahe gelegenen Provinzhauptstadt Katif wurde nach Protesten 1979 ebenfalls die Altstadt dem Erdboden gleich gemacht. Es entstanden ein Parkplatz und eine sunnitische Moschee.