Schengen – eine Erfolgsgeschichte
28. Juni 2018Wenn man die Europäer fragt, was Europa eigentlich ausmacht, fällt eine Antwort besonders häufig: Der freie Verkehr von Personen, Gütern, Geld und Dienstleistungen ist für die meisten (58 Prozent) die wichtigste Errungenschaft. Im jüngsten Eurobarometer 2018 gaben mehr als die Hälfte (53 Prozent) an, persönlich von den offenen Binnengrenzen profitiert zu haben.
Auch die Wirtschaft hat sich auf diese Freizügigkeit eingestellt und profitiert immens davon. 2016 ließ die Bertelsmann Stiftung errechnen, was Grenzkontrollen anrichten würden: Allein die deutsche Volkswirtschaft könnte binnen zehn Jahren 77 Milliarden Euro verlieren.
Die offenen Grenzen verdankt Europa dem Schengen-Abkommen, das Zusammenarbeit und freie Fahrt durch insgesamt 26 Staaten ermöglicht, dazu kommen sechs Teilanwenderstaaten. Welche Meilensteine lagen auf dem Weg zum geeinten Europa?
Die Vorgeschichte
Bereits in den Römischen Verträgen von 1958 fand sich die Absicht, alle Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten zu beseitigen. Im Juli 1984 waren es dann Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterand, die im sogenannten Saarbrücker Abkommen den Abbau der Grenzkontrollen zwischen beiden Staaten vereinbarten. Der damalige CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann erfuhr von dieser Einigung erst aus der Presse.
Wenige Wochen später führte beide Staaten grüne Plaketten ein, mit denen Autofahrer an der Grenze erklären konnten, sich an alle Zollvorschriften zu halten und dann nur noch stichwortartig kontrolliert wurden. Der Grenzverkehr wurde bequemer, im Polizeijargon machte die Wortschöpfung "Kowaz", Kontrolle ohne Wartezeiten, die Runde.
Die Erleichterungen machten die drei Beneluxstaaten hellhörig. In einem Memorandum erklärten sie, ebenfalls am Saarbrücker Abkommen teilnehmen zu wollen. Dieser Wunsch wurde im Schengen-Abkommen dann erfüllt.
Am 14. Juni 1985 wurden die Erleichterungen an den Grenzen der fünf Staaten an einem symbolischen Ort besiegelt: Das Passagierschiff "Princesse Marie-Astrid" steuerte auf der Mosel genau die Stelle an, wo Deutschland, Frankreich und Benelux-Staaten aneinander grenzen. In luxemburgischen Schengen gingen die Diplomaten an Land und unterzeichneten das Dokument.
Schengen I und II
Bereits am Tag nach der historischen Moselfahrt begann auch an den Grenzen der Benelux-Staaten die "Kowaz" für Autos mit grüner Plakette. Ermittler aller fünf Staaten nahmen grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf. Obwohl das erste Übereinkommen nur eine bilaterale Initiative war, profitierten unmittelbar auch andere EU-Mitglieder davon: Ihre Bürger genossen an den Grenzen innerhalb des Schengenraums die gleiche Vorzugsbehandlung wie die Bürger der Vertragsstaaten.
Das Übereinkommen, informell auch "Schengen I" genannt, beinhaltete neben Sofortmaßnahmen auch mittel- und langfristige Absichten. Wie sie konkret umgesetzt werden sollten, vereinbarten die fünf Staaten 1990. Das "Schengen II"-Abkommen regelt unter anderem die Kompetenzen der nationalen Polizeibehörden im Schengenraum, und ist die Grundlage eines gemeinsamen Informationssystems der Sicherheitsbehörden. Und es stellt in Aussicht, was am 26. März 1995 tatsächlich Realität wurde: den Fall der Schlagbäume an den Binnengrenzen des Schengenraums.
In der Zwischenzeit waren Italien, Spanien, Portugal und Griechenland dem Schengen-Übereinkommen bereits beigetreten; kurze Zeit später kamen auch Österreich, Dänemark, Schweden und Finnland sowie die beiden Nicht-EU-Länder Island und Norwegen hinzu.
Vertrag von Amsterdam
Bis dahin war das Schengen-Übereinkommen ein Vertrag zwischen einzelnen europäischen Staaten, der jedoch ansonsten nicht mit der EU verbunden war. Das änderte sich 1997 mit demVertrag von Amsterdam: Das Abkommen wurde in EU-Recht integriert und sollte auch für neue EU-Mitglieder gelten. Die bislang unbeteiligten Inselstaaten Irland und das Vereinigte Königreich bestanden auf Ausnahmeregelungen: Sie nehmen zwar am Schengen-Informationssystem teil, führen aber weiterhin Grenzkontrollen durch.
2007 stießen die neuen EU-Mitglieder Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn zu den Schengen-Staaten hinzu. Vier Jahre später erweiterte sich der Schengen-Raum um das nächste Nicht-EU-Land, die Schweiz. Damit entstand zeitweise eine ungeschützte Schengen-Außengrenze, weil Liechtenstein ohne Grenzkontrollen an den Schweizer Wirtschaftsraum angeschlossen ist. Das Fürstentum musste noch bis 2011 warten, weil Deutschland und Schweden Bedenken wegen Steuerhinterziehung hatten.
Damit wuchs der Schengen-Raum auf seine heutige Größe an: In ihm leben mehr als 400 Millionen Menschen, die Landesgrenzen sind mehr als 7700 Kilometer lang, die Seegrenzen knapp 42.700 Kilometer. Die seitdem zur EU hinzugekommen Staaten Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Zypern sollen in den Schengenraum aufgenommen werden, sobald sie alle Voraussetzungen erfüllt haben.
Eine erste Reform erlebte das Schengen-Regelwerk 2013: Weil nach den politischen Umbrüchen in Nordafrika 2011 die Flüchtlingsbewegungen auf dem Mittelmeer zunahmen, drängten weiter nördlich gelegene Staaten wie Deutschland auf eine Regelung, die zeitweilig Grenzkontrollen an Schengen-Binnengrenzen erlaubt. Daraufhin wurde ein Notfall-Mechanismus eingeführt, mit dem Staaten einseitig an ihren Grenzen kontrollieren dürfen - maximal zwei Jahre am Stück.
Wo steht Schengen heute?
Von dieser Regelung haben insbesondere seit der Ankunft der Flüchtlinge 2015 einige Staaten Gebrauch gemacht, zum Beispiel Deutschland, Österreich, Dänemark, Frankreich und Bulgarien. Außerdem haben Ungarn und Slowenien Zäune an ihren Schengen-Außengrenzen errichtet, Österreich befestigte sogar einen kurzen Abschnitt der Binnengrenze zu Slowenien.
Obwohl die Zahl neu ankommender Flüchtlinge seitdem massiv zurückgegangen ist, stellen einige Politiker, darunter auch der deutsche Innenminister Horst Seehofer, die Binnengrenzen zunehmend in Frage. "Die Kontrollen an den Binnengrenzen müssen so lange ausgeführt werden, bis die EU es nicht schafft, die Außengrenzen wirksam zu schützen und zu kontrollieren. Auf absehbare Zeit sehe ich im Augenblick nicht, dass ihr das gelingen wird."